Die Botschaft des Feuers
Decke benutzt hatte. Irgendetwas stimmte nicht, auch wenn er noch nicht genau sagen konnte, was es war.
Er war vier Tage lang durch unwegsames Gelände gewandert und er wusste, dass er hier oben in Sicherheit war. Dennoch
spürte er ganz deutlich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Er stand auf, um besser sehen zu können. Im Osten, wo Mekka lag, kündigte ein schmaler roter Streifen am Horizont den Sonnenaufgang an. Aber das Tageslicht war noch nicht hell genug, um etwas zu erkennen. Plötzlich hörte Charlot in der Stille auf dem Plateau ein Geräusch. Es kam aus einer Entfernung von nur wenigen Metern. Zuerst das leise Aufsetzen eines Fußes auf losem Kies, dann der Atem eines Menschen.
Vor Angst, einen falschen Schritt zu machen, wagte Charlot nicht, sich zu rühren.
»Al-Kalim - ich bin’s«, flüsterte jemand ganz leise, obwohl außer Charlot weit und breit niemand war, der ihn hätte hören können.
Nur ein Mensch würde ihn mit al-Kalim, der Seher, anreden. »Schahin!«, rief Charlot. Er spürte, wie starke Hände seine Handgelenke packten, die Hände des Mannes, der ihm Mutter und Vater, Bruder und Lehrer gewesen war.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Charlot. Und warum hatte Schahin sein Leben riskiert, um das Meer und die Wüste zu durchqueren? Warum war er mitten in der Nacht durch die gefährliche Schlucht gewandert, um im Morgengrauen hier einzutreffen? Was auch immer ihn hierhergeführt hatte, musste von ungeheurer Wichtigkeit sein.
Aber vor allem: Warum hatte Charlot sein Kommen nicht vorausgesehen?
Am Horizont ging die Sonne auf und überzog die rollenden Dünen mit einem rosafarbenen Schimmer. Schahin hielt noch immer Charlots Handgelenke umfasst, als brächte er es nicht fertig, sie loszulassen. Nach einer Weile trat er einen Schritt zurück und schob sein indigoblaues Kopftuch zur Seite.
Im rosigen Licht erblickte Charlot zum ersten Mal Schahins runzliges, falkenartiges Gesicht, und was er darin entdeckte, jagte ihm Angst ein. In den neunundzwanzig Jahren seines Lebens hatte Charlot nicht ein einziges Mal erlebt, dass sein Mentor in irgendeiner Situation Gefühle gezeigt hätte, erst recht nicht von der Art, wie er sie jetzt in seinem Gesicht sah: Schmerz.
Warum konnte Charlot immer noch nicht in ihn hineinsehen?
Schahin setzte mühsam zum Sprechen an. »Mein Sohn …«, begann er, dann versagte ihm die Stimme.
Charlot hatte Schahin zwar stets als seinen Vater betrachtet, aber das war das erste Mal, dass der alte Mann ihn mit Sohn anredete.
»Al-Kalim«, fuhr Schahin fort. »Ich würde dich nicht bitten, die große Gabe, die Allah dir verliehen hat, zu benutzen, die Gabe des zweiten Gesichts, wenn es sich nicht um eine Angelegenheit von ungeheurer Bedeutung handelte. Eine schlimme Krise hat mich dazu bewogen, von Frankreich übers Meer hierherzukommen. Etwas von außerordentlichem Wert ist womöglich in die Hände des Bösen gefallen. Erst vor wenigen Monaten habe ich davon erfahren …«
Charlot packte die Angst, denn wenn Schahin hier in die Wüste gekommen war, um ihn zu treffen, musste es sich um eine ernsthafte Gefahr handeln. Aber Schahins folgende Worte schockierten ihn noch mehr.
»Es hat etwas mit meinem Sohn zu tun«, fügte er hinzu.
»Dein … Sohn ?«, wiederholte Charlot, der glaubte, sich verhört zu haben.
»Ja, ich habe einen Sohn. Ich liebe ihn sehr«, sagte Schahin, »und ebenso wie du wurde er auserwählt für ein Leben, das wir nicht hinterfragen dürfen. Schon als Kind wurde er in einen
geheimen Orden eingeführt. Seine Ausbildung war fast beendet - vorzeitig, denn er ist erst vierzehn Jahre alt. Vor einem halben Jahr erhielten wir plötzlich die Nachricht, dass eine gefährliche Notlage entstanden war: Mein Sohn war vom höchsten shaikh - dem pir seines Ordens - auf eine wichtige Mission geschickt worden, um die Gefahr abzuwenden. Aber der Junge ist nie am Zielort eingetroffen.«
»Worin bestand seine Mission? Und was war das Ziel seiner Reise?«, fragte Charlot - und bemerkte gleichzeitig mit Entsetzen, dass dies das erste Mal war, dass er solche Fragen überhaupt hatte stellen müssen. Warum kannte er die Antwort nicht längst?
»Mein Sohn und seine junge Gefährtin sollten nach Venedig reisen«, antwortete Schahin, während er Charlot seltsam anschaute, als stelle er sich die gleiche Frage: Wie konnte es sein, dass Charlot das nicht wusste?
»Wir haben Grund zu der Befürchtung, dass mein Sohn Kauri und das Mädchen entführt wurden.«
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