Die Bourne-Identität
gut kannten, würde in dem Augenblick, in dem man ihn erkannte, niedergeschossen werden. Andererseits war die Chance, die Kerntruppe von Carlos' Leuten - oder gar Carlos selbst - zu beobachten, eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder bieten würde. Er mußte L'Arbalete betreten. Ein innerer Zwang trieb ihn, das Risiko einzugehen. Es war verruckt! Aber die Umstände zwangen ihn dazu. Carlos. Er mußte Carlos finden!
Er spürte die Waffe an seinem Gürtel. Er stieg aus und zog den Mantel an, nahm einen schmalkrempigen Hut vom Sitz, dessen weicher Filz ringsum nach unten gebogen war; der würde sein Haar bedecken. Dann versuchte er, sich zu erinnern, ob er die Brille mit dem Schildpattgestell getragen hatte, als in Argenteuil die Aufnahme von ihm gemacht worden war. Nein; er hatte sie bei Tisch abgenommen, als ein Schmerz nach dem anderen durch seinen Kopf zuckte, ausgelöst von Worten, die ihm von einer Vergangenheit berichteten, die zu vertraut, zu erschreckend war, als daß er ihr ins Auge sehen konnte. Er griff nach seiner Hemdtasche; da war die Brille gut aufgehoben für den Fall, daß er sie brauchte. Er drückte die Türe zu und machte sich auf den Weg in Richtung Wäldchen.
Das grelle Licht der Außenbeleuchtung des Restaurants sickerte durch die Bäume, wurde alle paar Meter heller, je weniger Blattwerk dem Licht den Weg versperrte. Bourne erreichte den Rand des kleinen Wäldchens, vor ihm lag der mit Kies bedeckte Parkplatz. Er stand jetzt neben dem rustikalen Restaurant und sah eine Reihe kleiner Fenster, die eine ganze Gebäudewand zierten, sah die flackernden Kerzen hinter dem Glas, die die Gestalten im Inneren beleuchteten. Dann wanderte sein Blick zum Obergeschoß - obwohl dieses nicht die ganze Länge des Gebäudes füllte, sondern nur etwa die Hälfte, weil hinten eine offene Terrasse angebracht war. Aber der Überbau glich dem Erdgeschoß. Er bestand aus einer Reihe von Fenstern, die, vielleicht etwas größer, ebenfalls von Kerzenschein beleuchtet wurden. Gestalten regten sich, aber das waren ganz andere Leute als die Gäste im Untergeschoß.
Es waren alles Männer. Sie standen, saßen nicht; bewegten sich beiläufig, hielten Gläser in der Hand, Zigaretten, der Rauch kräuselte sich über ihren Köpfen. Es war unmöglich zu sagen, wie viele es waren - mehr als zehn, weniger als zwanzig vielleicht.
Und da sah er ihn, er bewegte sich von einer Gruppe zur anderen. Sein weißer Kinnbart leuchtete. General Villiers war tatsächlich zu einer Zusammenkunft gefahren, und alle Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß dies eine Konferenz war, die sich mit den Fehlern der letzten achtundvierzig Stunden befaßte, Fehlern, die es einem Mann namens Cain gestatteten, am Leben zu bleiben.
Die Chancen. Wie standen die Chancen? Wo waren die Wachen? Wie viele und wo waren ihre Stationen? Im Schütze des Wäldchens arbeitete Bourne sich vorsichtig zum Vordereingang des Restaurants, bog die Zweige mit einem kaum wahrnehmbaren Knacken zur Seite und stand reglos da, hielt Ausschau nach Männern, die sich im Blattwerk oder in den Schatten des Gebäudes verbargen. Er sah niemanden und setzte seinen Weg fort, bis er schließlich den hinteren Teil des Restaurants erreichte.
Eine Tür öffnete sich. Ein Mann in einer weißen Jacke trat heraus. Er stand einen Augenblick da, die Hände vor dem Gesicht, zündete sich eine Zigarette an. Bourne blickte nach links, nach rechts, nach oben zur Terrasse, aber da tauchte niemand auf. Ein Wachtposten, der hier stationiert war, wäre von dem plötzlichen Licht zehn Fuß unter der Konferenz erschreckt worden. Um das Haus herum gab es keine Posten.
Ein weiterer Mann erschien unter der Türe; auch er trug eine weiße Jacke, aber dazu eine Kochmütze. Seine Stimme klang ärgerlich, und das Französisch, das er sprach, hatte die gutturalen Klänge des Gascogner Dialekts. »Wir schwitzen und ihr faulenzt hier! Der Dessertwagen ist halbleer. Füll ihn wieder auf. Jetzt, du Faulpelz!«
Der Kellner, der für den Nachtisch zuständig war, drehte sich um und zuckte die Achseln; er drückte seine Zigarette aus und ging wieder hinein, schloß die Türe hinter sich. Das Licht verschwand, nur ein schwacher Schein des Mondes blieb, aber es genügte, um die Terrasse zu beleuchten. Dort war niemand, kein Wächter, der die breiten Doppeltüren sicherte, die nach drinnen führten.
Carlos. Du mußt Carlos finden. Carlos in die Falle locken. Cain ist für Charlie, und Delta ist für
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