Die Bourne-Identität
die Polizei anrufen?«
»Sie kennen meine Antwort. Ich kann Sie nicht hindern, aber ich will nicht, daß Sie das tun.«
Marie senkte die Waffe. »Keine Angst, ich habe es mir längst anders überlegt: Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie es nicht wollen. Ich glaube Ihren Worten nämlich ebensowenig wie Sie.«
»Und wenn Sie unrecht haben?«
»Dann mache ich einen schrecklichen Fehler.«
»Danke. Wo ist das Geld?«
»Auf der Kommode. In Ihrem Paß und in Ihrer Brieftasche. Dort liegt auch der Zettel mit dem Namen des Arztes und die Quittung für das Zimmer.«
»Kann ich bitte den Paß haben? Da hatte ich die Schweizer Banknoten reingelegt.«
»Ich weiß.« Marie holte den Paß. »Ich habe dem Concierge dreihundert Franken für das Zimmer und zweihundert für die Adresse des Arztes gegeben. Der Arzt hat vierhundertfünfzig Franken verlangt, und ich habe dann noch hundertfünfzig daraufgelegt. Insgesamt habe ich elfhundert Franken ausgegeben.«
»Sie brauchen nicht abzurechnen«, sagte er.
»Sie sollten es aber wissen. Was werden Sie tun?«
»Ihnen Geld geben, damit Sie nach Kanada zurückfliegen können.«
»Ich meine, nachher.«
»Sehen, wie ich mich fühle. Vielleicht bezahle ich den Conderge dafür, daß er mir Kleider kauft. Ich komme schon zurecht.« Er holte ein paar große Scheine heraus und hielt sie ihr hin.
»Das sind mehr als fünfzigtausend Franken. Sie haben meinetwegen eine Menge durchgemacht.«
Marie St. Jacques sah das Geld an, dann die Pistole, die sie in der linken Hand hielt. »Ich will Ihr Geld nicht«, sagte sie und legte die Waffe auf das Tischchen neben dem Bett.
»Was soll das heißen?«
Sie wandte sich ab und ging zu dem Sessel zurück, drehte sich um und sah ihn an, während sie sich setzte.
»Daß ich Ihnen helfen will.«
»Jetzt warten Sie ... « »Bitte«, unterbrach sie ihn. »Bitte, stellen Sie mir keine Fragen. Sagen Sie eine Weile gar nichts.«
Buch II
10.
Keiner von beiden wußte, wann es geschehen war. Anfänglich hatte jeder noch seine Zweifel, ob er seinen Gefühlen trauen sollte. Es gab keine Konflikte, die zu überwinden, keine Barrieren, die zu übersteigen waren. Stumme Blicke und Gesten genügten oft, um sich zu verständigen.
Im Zimmer des Dorfgasthofes wurde Bourne von Marie ebenso intensiv gepflegt und betreut, wie das im Krankenhaus der Fall gewesen wäre. Untertags kümmerte sie sich um verschiedene praktische Dinge wie Kleider, Mahlzeiten, Landkarten und Zeitungen. Den gestohlenen Wagen hatte sie zu dem 15 Kilometer entfernten Städtchen Reinach gefahren, wo sie ihn einfach abgestellt hatte, und war dann mit einem Taxi nach Lenzburg zurückgefahren. Wenn sie nicht bei ihm war, konzentrierte Bourne sich darauf, auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen. Irgend etwas in seiner vergessenen Vergangenheit lehrte ihn, daß seine Genesung von seiner Disziplin abhing. Es war nicht das erste Mal, daß er sich in einer solchen Lage befand ... schon vor Port Noir hatte er Ähnliches erlebt.
Wenn sie zusammen waren, redeten sie miteinander, zuerst verlegen. Zwei Fremde, die das Schicksal zusammengeworfen hatte, tasteten sich vorsichtig ab. Zu Anfang kreiste das Gespräch fast immer um die schrecklichen Ereignisse, die sie gemeinsam erlebt hatten.
Doch allmählich erfuhr Jason mehr über die Frau, die sein Leben gerettet hatte. Er wollte nicht, daß sie ebensoviel über ihn wußte wie er selbst, er aber nichts über sie. Woher stammte sie? Warum gab eine attraktive Frau mit dunkelrotem Haar und einer Haut, die ganz offensichtlich häufig Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war, vor, Doktor der Wirtschaftskunde zu sein?
»Weil sie das Leben auf der Farm leid war«, erwiderte Marie.
»Ohne Spaß? Sind Sie wirklich auf einer Farm groß geworden?«
»Nun, man muß wohl eher von einer kleinen Ranch sprechen; klein im Vergleich mit den wirklich großen Farmen in Alberta.«
»Ihr Vater war also Rancher?«
Marie lachte. »Nein, eigentlich war er Buchhalter. Erst nach dem Krieg ist er Rancher geworden. Er war Pilot in der Royal Canadian Air Force. Wahrscheinlich kam ihm die Arbeit eines Buchhalters ein wenig langweilig vor, nachdem er so viel Himmel gesehen hatte.«
»Zu dem Schritt gehört aber ganz schön viel Mumm.«
»Mehr als Sie ahnen. Zuerst hat er fremdes Vieh auf Land, das ihm nicht gehörte, verkauft, ehe er die Ranch erwarb.«
»Ich glaube, ich könnte ihn mögen.«
»Das würden Sie auch.«
Sie hatte mit ihren Eltern und zwei Brüdern bis zu ihrem
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