Die Bourne-Identität
mir einen Schluck zu trinken?«
»Sicher.« Jason erhob sich und ging zur Kommode. Er schenkte Whisky in zwei Gläser und sah zu ihr hinüber. »Willst du Eis haben?«
»Nein.« Sie warf die Zeitschrift aufs Bett und drehte sich zu ihm herum. »Ich werde verrückt!«
»Dann sind wir zwei Verrückte.«
»Ich will dir glauben; aber ich ... ich ...«
»Du bist nicht sicher«, sprach Bourne den Satz für sie zu Ende. »Ebensowenig wie ich.« Er brachte ihr das Glas. »Was soll ich denn sagen? Bin ich womöglich einer von Carlos' Soldaten? Habe ich etwa den Schwur gebrochen? Habe ich deshalb die Tötungsmethode gekannt?«
»Hör auf!«
»Das sage ich auch oft zu mir: >Hör auf.< Du darfst nicht denken, du mußt versuchen, dich zu erinnern; aber gehe behutsam vor. Es könnte sein, daß eine Lüge aufgedeckt wird, die zu zehn weiteren Fragen führt. Vielleicht ist es so, wie wenn man betrunken war und dann aufwacht und nicht mehr weiß, mit wem man sich gestritten hat oder ... verdammt ... wen man erschossen hat.«
»Nein ...« Marie zog das Wort in die Länge. »Du bist du; du darfst mir den Glauben daran nicht rauben.«
»Das will ich nicht. Ich will ihn mir auch selbst nicht nehmen.« Jason ging zum Sessel zurück und setzte sich, das Gesicht zum Fenster gewandt. »Du bist auf den Artikel gestoßen, in dem geschildert wird, wie Carlos seine Leute liquidiert. Ich habe einen anderen entdeckt. Was darin steht, habe ich ebenso gewußt wie die Meldung über Howard Lelands Ermordung. Ich brauchte den Bericht nicht einmal zu Ende zu lesen.«
Bourne hob das drei Jahre alte Heft von Potomac Quarterly vom Boden auf und deutete auf das Porträt eines bärtigen Mannes. Es war in groben Strichen gehalten, irgendwie unfertig, so als wäre es nach einer vagen Beschreibung entstanden. Er hielt ihr die aufgeschlagene Seite hin.
»Da, lies«, sagte er. »Der Artikel beginnt oben links und hat die Überschrift >Mythos oder Monstrum<. Anschließend möchte ich ein Spiel mit dir spielen.«
»Ein Spiel?«
»Ja. Ich habe nur die ersten zwei Absätze gelesen.«
»Also gut.« Marie musterte ihn verwirrt. Sie griff nach der Zeitschrift und las.
MYTHOS ODER MONSTRUM
Ein Jahrzehnt lang ist der Name »>Carlos« in den finsteren Vierteln so unterschiedlicher Städte wie Paris, Teheran, Beirut, London, Kairo und Amsterdam nur im Flüsterton ausgesprochen worden. Es gibt konkrete Beweise, daß er Exekutionen für extrem radikale Gruppen wie die PLO und die Baader-Meinhof-Bande durchgeführt hat.
Hört man von seinen Taten, so denkt man an eine Welt, die von Gewalt und Verschwörung beherrscht wird, in der schnelle Wagen und ebenso schöne wie kühne Frauen eine wichtige Rolle spielen. »>Carlos« wird in diesen Darstellungen als blutrünstiges Monstrum beschrieben, das die Ware Tod mit der Nüchternheit eines Marktanalytikers verkauft und dabei ein klares Bild von Löhnen, Kosten und einer straffen Organisation besitzt.
Der Mann, der dieses komplizierte Geschäft meisterhaft beherrscht, heißt Iljitsch Ramirez Sanchez. Man vermutet, daß er Venezolaner ist, der Sohn eines fanatischen, aber nicht sehr prominenten marxistischen Anwalts (der Vorname Iljitsch ist der Tribut des Vaters an Wladimir Iljitsch Lenin). Sein Vater soll ihn in jungen Jahren nach Rußland geschickt haben, um ihn dort für eine Agententätigkeit ausbilden zu lassen. Angeblich hat »Carlos« das sowjetische Ausbildungslager in Nowgorod besucht. Was dann weiter mit ihm geschah, ist relativ unklar. Gerüchten zufolge erkannte einer der Ausschüsse des Kreml, die regelmäßig ausländische Studenten daraufhin überprüfen, welche man für künftige Spionageaufgaben einsetzen könnte, welchen Charakter dieser Iljitsch Sanchez hatte. Für sie war er ein Paranoiker, der die wohlplazierte Kugel oder Bombe als einzige Lösung aller Probleme ansah. Die Empfehlung wurde ausgesprochen, den Jungen nach Caracas zurückzuschicken und sämtliche Verbindungen mit seiner Familie abzubrechen. Von Moskau abgelehnt und der westlichen Gesellschaft zutiefst abgeneigt, begann Sanchez, sich seine eigene Welt aufzubauen, eine Welt, in der er der absolute Herrscher war. So wurde er schließlich zum professionellen Killer, der seine Dienste allen möglichen politischen und weltanschaulichen Randgruppen zur Verfügung stellt.
Jetzt wird das Bild wieder klarer. Sanchez, der zahlreiche Sprachen fließend beherrscht, darunter seine Muttersprache Spanisch, dazu Russisch, Französisch und
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