Die Brandungswelle
ersten Filzstift auf und roch an der Mine. Sie malte ein paar Striche auf das helle Holz der Bank, auch ein paar auf ihren Handrücken. Dann kippte sie die Kiste aus und steckte alles in ihre Taschen, die Stifte, den Radiergummi, die Kreide. Sie drückte das Heft an sich, das auch in der Kiste gelegen hatte, umarmte Raphaël und ging, ohne zu sagen wohin.
Am nächsten Tag war die Kleine wieder da, im Flur. Von irgendwoher gekommen, in diesem viel zu großen Mantel, dessen Taschen nun ihren Schatz bargen.
Mit zerzausten Haaren, ein Arm am Körper herabhängend, fing sie an, auf die Mauer zu zeichnen. Ein schwarzer Strich, wie ein Ariadnefaden, eine dunkle Wellenlinie, die die Kleine um das Türschloss herum und nach draußen zog, wo sie das Weiß des Fensterladens teilte. Als die Kleine den Pastellstift wechselte, wurde das Schwarz braun. Die kleinen Papierhüllen, die um die Kreidestäbchen gewickelt waren, blieben im Gebüsch an den Dornen hängen.
Der Abdruck ihrer Schuhe in der lockeren Erde.
Kleine glänzende Gräser wuchsen entlang der Mauer, herzförmige Pflanzen, deren Blätter von einer feinen Schicht Gift bedeckt waren. Überall unter den Blättern lag totes Getier, Fliegen, Bienen, Schmetterlinge. Zu Dutzenden lagen sie da, zusammengekrümmt, wo der Tod sie überrascht hatte. Einige waren schon verwest. Niemand hatte mir je den Namen dieser Pflanze sagen können, aber ich wusste, dass sie aus dem Humus dieser Verendeten die Energie schöpfte, um ihre Wurzeln zu stärken.
Die Bachstelze zeichnete auch auf den Bootsrumpf. Herzförmige
Blumen und Sonnen. Ich fragte mich, was Max sagen würde, wenn er die Zeichnung sah.
Und auch, was mit der Zeichnung passieren würde, wenn das Boot aufs Meer hinausfuhr. Die Kleine hatte die Filzstifte beim Boot liegen lassen, Buntstifte mit abgebrochenen Minen, ein paar Kappen, auch die leere Kiste mit der Plastikeinlage.
Eines Morgens dann war alles verschwunden.
A m Sonnabend fuhr ich nach Omonville. Es regnete. Ich stellte Raphaëls Auto auf dem Parkplatz neben der Kirche ab. Monsieur Anselme erwartete mich mit Ursula, sie saßen unter dem Glasdach.
Er freute sich, mich zu sehen. Er nahm meine Hand.
»Wir haben Sie erwartet.«
Ursula hatte sehr kurzes Haar, tiefschwarz. Leuchtende Augen. Sie drückte mich liebevoll an sich und ließ mich neben sich Platz nehmen.
Monsieur Anselme goss Orangeade in die Gläser und schnitt drei Stück Kuchen ab. Im Teig waren Feigen, offenbar kandiert.
»Schmeckt es Ihnen?«
Zarte Körner knackten zwischen meinen Zähnen. Ich lächelte. Es war köstlich. Während wir aßen, sprachen wir vom Garten und vom friedlichen Leben in Omonville, das ein so spezielles Klima hat, dass hier keine Pflanze je zu erfrieren scheint. Dieses Dorf glich einer Oase des Friedens, weit genug vom Toben des Meeres entfernt und nah genug, um seine Energie zu empfangen.
Ursula blieb zurückhaltend.
Monsieur Anselme lächelte.
Ursula erzählte ein wenig, wie es früher in Omonville gewesen war, und auch von der Zuflucht . Sie sprach davon, wie die Kinder gelebt hatten.
»Wissen Sie, das war eine besondere Zeit, die Dinge waren einfacher als heute.«
Sie trug einen großen Ring mit einem riesigen Stein am Finger, den sie drehte, wenn sie sprach.
Sie sah uns an, Monsieur Anselme und mich.
»Ich habe niemals jemanden Kinder so sehr lieben sehen, wie Nan sie liebte. Man hat sie viel kritisiert, aber die Zuflucht ist allein ihr zu verdanken. Sie hat dafür gekämpft. Die Kinder kamen zu uns, eins elender als das andere. Mit den wenigen Mitteln, die sie zur Verfügung hatte, hat sie ihnen ein Nest gebaut.«
»Und Théo?«
»Théo, mal kam er, mal kam er nicht … Er musste den Leuchtturm hüten. Und außerdem war die Mutter nicht gerade einfach. Sie mochte es nicht, dass er in die Zuflucht kam.«
»Das muss man verstehen«, sagte ich.
»Warum? Das ist doch verdammte Kirchenmoral, wohlfeile Anständigkeit! Es gab abscheulichen Klatsch über Nan. Gibt es immer noch. Man darf nicht darauf hören. Sie hätten beide ordentliche Arbeit geleistet, wenn man sie in Ruhe gelassen hätte.«
Sie sagte es sehr heftig. Danach wollte sie nicht mehr über Théo sprechen.
Aber ich ließ nicht locker.
»Warum hat er nicht alles hingeschmissen, wenn er sie so geliebt hat?«
Sie lächelte kurz.
»Man hätte ihnen das Leben zur Hölle gemacht, deswegen! Die Mutter stammt aus dem Dorf, ihre Familie lebt seit Jahrhunderten
dort. Nan trägt das Kreuz ihrer
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