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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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die Skulpturen Ende der Woche abholen. Die Zeichnungen nahm er gleich mit.

    Ich ging dicht an das ausgemergelte Gesicht der Herumirrenden heran, eine Schwester im Elend, ihr offenes Geschlecht, ihre Zerrissenheit. Diese Schamlosigkeit … Wie konnte Raphaël es wagen? Ich wusste nicht, woraus er seine Kraft schöpfte, aus welcher dunklen Quelle das Bedürfnis entsprang, immer tiefer zu graben. Ohne Zugeständnis. Ich hätte gern so zu leben vermocht, wie er seine Skulpturen schuf. Bis aufs Blut, unter die Haut.
    Wagen, was ich war.
    Sie fuhren alle weg, der Gießer, Hermann. Ich blieb allein im Atelier, legte meine Hände auf die Hände der Herumirrenden , deren eingefallene Wangen und leere Lippen mich an die Leere meines eigenen Bauches erinnerten.
    An meine Nächte.
    Ohne dich.
    Meine leeren Nächte.
    Diese Frau hatte ihr totes Kind in den Armen gehalten. Sie war mit ihm herumgelaufen. Sie hatte es genährt, bis jemand es ihr entriss. Ein Fetzen. Ein Arm. Wie man dich mir entrissen hatte. Was war mir von dir geblieben? Am Ende hatte ich nicht mehr weinen können. Sie hatten mich schlafen lassen. Stunden. Tage. Eines sonnigen Morgens haben sie die Tür aufgemacht und gesagt, es gehe mir besser.
    Ich habe nach dir verlangt. Auf Knien betend, ich, die an nichts glaubte. Sie hatten mich wieder einsperren müssen. Bis du zur Stille wurdest. Ein ewiger Schatten unter meiner Haut.
    Ich hob langsam den Kopf. Die Herumirrende vor mir schien mich anzulächeln. Sicher waren es die Lichtreflexe in den Falten des Gesichts. Wohin war sie gegangen, nachdem man ihr das Kind genommen hatte? Hatte sie wieder lieben können?

    Tränen flossen über meine Wangen. Ich wusste nicht, dass ich weinte.
    Trotzdem weinte ich, so salzige Tränen, dass mir übel wurde.

M ax saß an ein Holzkreuz gelehnt in der Sonne und ruhte sich aus. Mit dem Finger folgte er den Schatten der Vögel auf den Steinen. Er sah mich kommen.
    »Die Wurzeln müssen die richtige Atmung kennen«, sagte er und zeigte auf die Erde, die er unter den Blumen aufgewühlt hatte.
    Die Erde der Toten. Wie viele Nächte war ich mit ihrem Geschmack im Mund aufgewacht. Wo waren meine Freunde? Mein Telefon? Es lag irgendwo in einer Tasche, seit Monaten ausgeschaltet. Ich müsste ein paar von ihnen anrufen.
    Max zog mich am Ärmel.
    »Raphaël sagt, dass es irgendwann keine Sonne mehr gibt, man wacht auf, es ist Morgen, dann ist es Mittag, und es wird Nacht sein.«
    Er spuckte auf den Boden.
    »Er sagt, dass die Blumen sterben werden.«
    Er zog ein Stück Brot aus der Tiefe seiner Tasche und fing an, daran zu knabbern.
    »Glaubst du, dass an einem Tag, wenn mein Schiff aufs Meer hinausfährt, Morganes Liebe für mich leben wird?«
    Er starrte mich an, der Kopf geneigt, der Blick schräg.

    »Raphaël sagt, dass die Sache nicht möglich ist, aber Raphaël ist nicht Morgane, und er hat nicht jedes Wissen.«
    Er wartete darauf, dass ich antwortete. Mit den Zähnen kratzte er immer noch an der harten Kruste des Brotes. Er konnte lange so kratzen.
    »Ich weiß auch nicht alles, Max. Aber ich glaube, dass das, was du willst, nicht möglich ist.«
    Er nickte. Einen Moment lang waren seine Augen weiß, als wären sie ins Innere seines Schädels gerichtet. Ich wusste, dass er Medikamente nahm, um seine Absencen zu unterdrücken.
    Ich legte die Hand auf seinen Arm.
    »Max?«
    Er brauchte Zeit, um wieder zu sich zu kommen. Schließlich rieb er sich die Augen, steckte seine Sachen in die Tasche und zog mich in die Kirche. Er wollte mir zwei Stiche zeigen, den der Vendémiaire und den des U-Bootes, das sie versenkt hatte. Er erzählte mir schon seit einigen Tagen von diesem Unglück, das 1912 geschehen war. Das Kreuz der Vendémiaire stand neben der Griffue – eine Erinnerung an die Seeleute, die an jenem Tag umgekommen waren. Max kannte die Geschichte auswendig.
    Während wir in der Kirche waren, war Nan gekommen. Wir sahen sie beim Rausgehen. Sie kniete auf dem großen quadratischen Grab und entfernte die welken Blüten aus den Begonientöpfen. Das tat sie jeden Tag, seit sie sieben Jahre alt war. Über Tote gebeugt war sie herangewachsen, alt geworden. Wo war das Kind, das sie aufgenommen hatte?
    Max beobachtete sie.
    Woran dachte er?
    Was wusste er von dem Kind, das von ihr weggegangen war?
    Ich hob ein paar Kieselsteine auf und ließ sie von einer Hand in die andere gleiten.

    »Erinnerst du dich daran, dass du mir von deinem Freund erzählt hast …«
    Er lächelte und nickte

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