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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Familie, sie näht die Leichentücher. Sie lebt zwischen zwei Welten, manche behaupten sogar, sie habe den bösen Blick …«
    Ursula strich sich mit der Hand durchs Haar.
    Monsieur Anselme sagte gar nichts. Er hatte seinen Stuhl ein Stück vom Tisch abgerückt und hörte uns zu.
    »Nan wusste, dass sie keine Kinder bekommen würde, und als dann Michel kam, wie soll ich es Ihnen erklären … Dieser Junge war wie eine Larve, es war unmöglich, ihn aufzupäppeln! Man konnte ihm noch so viel zu essen geben, die besten Sachen … Sobald man seine Hand losließ, rannte er zum Meer. Wer weiß warum! Am Ende haben wir ihn laufen lassen. Ich fand ihn immer am selben Ort, er saß auf einem Stein. Ich weiß nicht, ob er traurig war, wenn ich ihn holte. Ich bin mir auch nicht sicher, was er getan hätte, wenn ich nicht gekommen wäre.«
    Sie rieb eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
    »In einem Winter hat es fürchterlich geschneit, die Fenster waren vereist. Die Kleinsten machten ins Bett, und die nassen Laken wurden steif.«
    Sie erzählte von dem schrecklichen Winter, vom Essen, das knapp geworden war, von warmen Suppen und kalten Zimmern. Von dem Geruch nach gekochtem Kohl, der überall in den Fluren gehangen hatte, als wären die Wände damit imprägniert gewesen.
    »Erinnern Sie sich daran, wann Michel in die Zuflucht gekommen ist?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein. Ich hatte gerade meine Jüngste geboren. Als ich die Arbeit dann wieder aufgenommen habe, war er schon seit einer Woche da, vielleicht auch zwei.«
    Sie überlegte. Während sie erzählte, kamen stückweise die Erinnerungen zurück.

    »Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, saß er im Hof in der Sonne. Wir wussten nichts von ihm, nur, dass man ihn in Rouen auf einem Haufen Lumpen gefunden hatte. Wir kannten nicht einmal seinen Namen …«
    Sie trank einen Schluck Orangeade und stellte das Glas hin.
    Ich sah sie an.
    »Es heißt, Nan habe Spielsachen aus dem Haus der Familie Perack gestohlen …«
    Sie lachte böse, versuchte es aber nicht zu leugnen. Sie hätte auch schweigen können.
    Stattdessen sah sie mich an, sehr direkt.
    »Na und? Was ist schlimm daran? Wem nutzten diese Spielsachen denn noch? Die Kinder mussten mit etwas spielen.«
    »Warum hat sie sie nachts geholt?«
    »Hier macht man alles nachts, so ist es eben. Waren Sie je in der Zuflucht ?«
    »Ja.«
    Sie sah uns an, Monsieur Anselme und mich.
    »Warum suchen Sie dieses Kind eigentlich?«
    »Ich suche es nicht …«
    Auch ich hatte Heime kennengelernt. Und alle glichen sie der Zuflucht , rochen nach feuchter Wäsche und schmutzigen Windeln. Es war das erstickend enge Zusammenleben gewesen, das mich so einsam gemacht hatte.
    »Es ist nur, weil ich auch so geboren bin … Ohne Eltern, mit niemanden.«
    Das sagte ich. Sie sah mich an, und ich versuchte zu lächeln. Sie nickte. Wir schwiegen. Sie verstand.
    Sie erzählte weiter.
    »Nan hatte ihm ein Zimmer neben ihrem eingerichtet, in ihrem Haus, aber er schlief lieber bei den anderen. Manchmal stand er nachts auf und ging barfuß in den Schlafraum.«

    Monsieur Anselme füllte erneut unsere Gläser.
    Ich hörte Ursula zu. Mir gefiel ihre präzise Art zu erzählen, als wollte sie uns etwas sehen lassen. Die zarte Gestalt des Kindes, das dicht an der Wand durch die Flure ging, die Füße im Staub, Nans traurige Augen, wenn sie morgens das Bett leer vorfand. Die Tür, die er aufmachen musste.
    »Max war sein Freund, ja?«
    Ursula nickte.
    »Ja … Vor allem als sie klein waren, aber auch später, als Michel in die Mittelschule gegangen ist, haben sie noch Kontakt gehalten.«
    »Und Sie wissen nicht, wohin er dann gegangen ist?«
    »Nein. Er verschwand ein paar Wochen nach seinem siebzehnten Geburtstag.«
    Sie drehte den Ring an ihrem Finger.
    »Er ist sicher nach Rouen gegangen … Und dann woandershin. Er hat wohl seine Familie gesucht, zumindest haben wir das gedacht. Es gab nicht viele Orte, an denen er suchen konnte.«
    Sie legte ihre Hände aneinander.
    »Ich war ihm böse … Nicht, weil er gegangen war, nein, das konnte ich verstehen, aber dass er uns so zurückgelassen hat, ohne sich je zu melden.«
    Ihre Stimme zitterte. Man spürte ihre Erregung.
    »Das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her … Nan hat seine Sachen in einer kleinen Schachtel aufbewahrt, das, was er anhatte, als man ihn gefunden hatte … Als ich das letzte Mal bei ihr war, hat sie sie mir noch gezeigt.«
    Sie sah mich lange an.
    Sie sagte, dass diese

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