Die Brandungswelle
Florelle.
Sie vermuteten, dass es Mitternacht gewesen sein müsse, vielleicht auch etwas später. Théo sagte, dass es kurz vor zehn gewesen sei. Mehr sagte er nicht.
Er wandte sich ab.
Ich hörte einen Vogel in einem Baum hinter mir schreien. Die Esel in der Ferne. Ich folgte ihren Spuren. Meine Sohlen im Schlamm.
Die Abdrücke der Hufe.
Wieder Gerüche, undefinierbare.
Frauen aus dem Dorf hatten sich auf der Bank vor Nans Haus versammelt. Der Bank, auf der sie sich die Croissants hatte schmecken lassen. Die Frauen sagten nichts zu mir, kaum ein Kopfnicken, als ich an ihnen vorbeiging. Ich machte die Tür auf.
In La Hague ist es üblich, von den Toten Abschied zu nehmen, indem man sie ein letztes Mal besucht.
Bei Nan roch es muffig, wie in Häusern, die man schon lange nicht mehr gelüftet hat, aus Angst vor Kälte oder bösen Passanten. Nan lag in einem schwarzen Kleid auf ihrem Bett.
Die Frauen hatten sich um ihren Körper gekümmert. Sie hatten sie gewaschen, gekämmt und ihr das letzte Kleid angezogen.
Sie hatten auch Kaffee gekocht, er stand auf der Wärmplatte der Kaffeemaschine, für die Besucher. Daneben Tassen, kopfüber auf einem karierten Handtuch.
Ich sah Nan an, das Gesicht schon entstellt. Was hatte sie getrieben, dorthin zu rudern?
Ich berührte mit den Fingerspitzen den Stoff des Kleides. Die mit kleinen, engen Stichen erzählte Geschichte. Das Schwarz des Fadens kaum glänzender als das des Stoffes. Nicht zu entziffernde Stickereien. Eine Alte, die näht, das hatte ich oft gedacht, wenn ich sie vorgebeugt hinter ihrem Fenster hatte sitzen sehen. Eine Alte, die stopft. Eine Verrückte.
Zwischen ihren auf dem Bauch gefalteten Händen steckte das Holzkreuz, mit dem sie so oft das Meer angefleht hatte, ihr ihre Toten zurückzugeben.
Das Meer hatte ihr nichts zurückgegeben, im Gegenteil, es hatte sie genommen, auch sie.
Ihr Haar war sorgsam gebürstet, es wirkte noch weißer, als hätte das Meer auch das genommen, den strahlenden Glanz.
Angeblich wachsen die Haare noch lange nach dem Tod weiter.
Das Leichentuch lag auf dem Stuhl. Auf dem Fensterbrett war alles so, wie Nan es verlassen hatte, der Nähkasten, ihr Tuch auf der Stuhllehne, eine große Schere. Die Pantoffeln neben der Eingangstür. Die Bürste auf dem Tisch. Ein alter Regenschirm. Die Fotos auf dem Regal über dem Kamin. Das Brot, ein Handtuch an einem Nagel, ein Teller in der Spüle. Ein Messer, ein Glas. Alles wie erstarrt. Würde sich jemand darum kümmern, die Kommoden, die Schränke zu öffnen, alles auszuräumen, was dort angehäuft war? Welche von den Frauen?
Oder würde man gar alles so lassen, bis es von der Zeit mumifiziert, unter dem Staub begraben wäre.
Der Kopf der Toten ruhte auf dem weißen Kissen. Sein Abdruck würde bleiben, wenn Nan nicht mehr da sein würde. Wie lange dauert es, bis so ein Abdruck verschwindet? Wie viele Tage?
Die Gegenstände überleben uns. Sie warten darauf, dass eine Hand sie ergreift, sie mitnimmt, um weiterzuleben.
Ursula kam, als ich noch im Haus war. Sie wechselte draußen ein paar Worte mit den Alten.
Sie war nicht erstaunt, mich hier zu treffen.
»Man soll nicht so lange allein mit einer Toten versauern«, sagte sie und trat zum Bett, »das soll man nicht.«
»Ich versauere nicht …«
Darüber musste sie lachen.
Ein Lachen am Totenbett.
»Aus Ihren Augen spricht die Qual, das ist nicht gut.«
Sie nahm mich am Arm und führte mich in die Küche.
»Die Alten haben gesagt, dass Sie schon seit fast einer Stunde hier sind.«
Sie stellte zwei Tassen auf den Tisch.
»Wir trinken einen Kaffee, dann gehen Sie.«
Sie füllte die Tassen.
Etwas Kaffee tropfte auf die Tischdecke.
Ich trank. Beim zweiten Schluck drehte mir der Geschmack den Magen um. Dazu der widerliche, unklare Geruch, der des Kaffees und der andere, der vom Körper der Toten aufstieg. Der Geruch, den man einatmen musste.
Ursula nahm meine Hand.
»Geht’s?«
Ich nickte.
Auf dem Tisch stand ein Korb mit Äpfeln. Eine Zeitung war aufgeschlagen.
Ursula sah sich um.
»Ich war schon sehr lange nicht mehr hier.«
Sie ging zu Nan.
»In deinem Alter steigt man nicht mehr ins Boot, früher oder später musste es so enden.«
Sie wandte sich ab. Mit Tränen in den Augen. Ihr Blick glitt über mich, über das Zimmer.
Sie zeigte auf die Fotos.
»Man müsste diese Kinder alle wiederfinden. Ihnen sagen …«
Mit dem Finger streichelte sie ein paar Gesichter.
»Viele würden nicht kommen, aber ich bin
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