Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
Vom Netzwerk:
sicher, dass einige den Weg auf sich nehmen würden.«
    Sie nahm wahllos ein paar Fotos, versuchte, sich an die Namen zu erinnern.
    »Kaum waren die Kinder angekommen, hat Nan sie dort draußen vor die Tür gesetzt und ein Foto gemacht. Sie hat immer gesagt, dass das Licht ihnen schöne Gesichter gibt. Dann hat sie die Fotos über ihren Betten an die Wand geheftet. Den
Kleinen gefiel es gut. Alle waren sie Waisenkinder, ohne Eltern, so ein Gesicht, sogar das eigene, machte sie weniger einsam.«
    Es verstrichen eine Minute oder zwei, in denen sie nichts sagte.
    »Wenn sie weggegangen sind, hat Nan das Foto behalten.«
    Sie sah sich die Bilder an, ging von einem zum anderen.
    »Das war er, der kleine Michel …«
    Sie hielt mir das Foto hin. Es war das, was Nan so heftig an sich gepresst hatte, als ich gekommen war, um ihr zu sagen, dass Théo sie erwartete. Ich erkannte die kleinen Schnürstiefel, den Holzzug an der Schnur.
    Das Kind mit den blonden Locken. Der klare Blick. Plötzlich kam mir der säuerliche Geschmack des Kaffees hoch. Mir wurde übel.
    Ich trat ans Fenster, die Hand vor dem Mund. Ich machte es auf. Ich atmete, um mich nicht übergeben zu müssen. Ich atmete.
    Ursula war besorgt.
    »Stimmt etwas nicht?«
    Ich sagte, es sei alles in Ordnung. Mit beiden Händen aufgestützt. Kalter Schweiß brach mir aus. Ich schloss die Augen und wartete, dass es vorbeiging.
    Ich hatte immer noch das Foto in der Hand.
    Dieses Kind, es war dasselbe Gesicht, dieselben Locken, derselbe Blick und dasselbe Poloshirt mit den drei kleinen Booten. Ich drehte das Foto um, auf der Rückseite stand ein Datum: November 1967 .
    Lamberts Eltern waren im Oktober jenes Jahres umgekommen.
    Ich lehnte mich an die Wand. Dieses Kind, das war Paul, Lamberts kleiner Bruder. Ich sah Ursula an. Sie stand neben der Toten.
Vorgebeugt. Sie hatte ihre Hand genommen, schien mit ihr zu sprechen.
    Ich wartete.
    Als sie sich aufrichtete, zeigte ich ihr das Foto.
    »Sind Sie sicher, dass dieses Kind Michel ist?«
    Sie sah mich an.
    Sie nickte und sagte, sie sei sicher.
    »Warum fragen Sie?«
    »Nur so …«
    Ich steckte das Foto in die Tasche und ging hinaus. Die Alten sahen mich an, als ich an ihnen vorbeikam.
    Draußen, auf der Leine, flatterten die Laken im Wind.

I ch musste Lambert treffen, aber als ich ins Dorf kam, war das Haus verschlossen. Er war nicht da.
    Ich ging ins Café, um auf ihn zu warten. Sein Bruder war womöglich am Leben. Nan hatte ihn großgezogen, hatte ihn bei sich aufwachsen lassen. Wie konnte ich ihm das sagen? Durch das Fenster sah ich seine Haustür.
    Die Kleine war da, sie malte ihre Buchstaben. Lili fegte unter den Tischen. Der Besen stieß irgendwo an. Die Mutter saß tief in ihrem Sessel, ihr Kopf zitterte vor Aufregung, wie verloren, nun, da Nan tot war. Nan, die andere, die Rivalin.
    Sie wusste es, aber was hatte sie verstanden? War Nan durch einen Unfall gestorben, oder hatte sie sich forttragen lassen? Alle sagten, sie sei oft mit dem Boot hinausgefahren. Ich holte das Foto aus der Tasche. Und wenn ich mich täuschte? Plötzlich fing ich an zu zweifeln. Das Kind trug zwar das gleiche Poloshirt, aber es konnte doch auch Zufall sein. Und diese verwirrende Ähnlichkeit.
    Die Kleine drückte zu stark mit dem Stift auf. Die Buchstaben schrieben auf die folgende Seite durch. Wenn sie einen Fehler machte, radierte sie. Auch das zu stark, der Radiergummi rieb ein Loch in das Blatt. Sie sammelte die kleinen Krümel auf, die ausfaserten, und steckte sie in die Tasche.

    »Warum radierst du auch das weg, was richtig ist?«
    Ich strich mit dem Finger über die radierte Stelle. Sie runzelte die Stirn.
    »Radieren lernen ist wichtig«, sagte ich.
    Ich warf einen Blick auf die Straße. Ich zog meinen Stuhl zu ihr. Zeigte es ihr.
    Die Mutter fing an, nach Théo zu rufen. Sie schrie. Lili sagte, daran sei ihr Gebiss schuld, sie würde weniger laut schreien, wenn sie es nicht trüge.
    »Du darfst nur das wegradieren, was falsch ist«, versuchte ich der Kleinen zu erklären, sie hörte nicht zu.
    Dann kam Max, er brachte ein Kaninchen mit. Er hatte gewildert.
    Es war für Lili.
    Seit Jahren wilderte er. Von dem Geld, das sie ihm dafür gab, kaufte er Kanister mit Benzin, um den Tank seines Bootes zu füllen. Er kaufte auch Schnur für seine Angeln und Büchsen mit Ködern. Er bewahrte sein ganzes Geld in einer kleinen Metallbüchse irgendwo in einem Schrank von Lili auf.
    »Hast du Lambert gesehen?«
    Er nickte.
    »Er ist in

Weitere Kostenlose Bücher