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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Lili machte ihm wie üblich einen Kaffee. Sie fragte ihn nichts. Kein Wort über Nan.
    Er wirkte müde. Gealtert.
    Lili stellte die Tasse auf die Untertasse, die Untertasse auf den Tresen.
    Die Mutter spürte den Alten. Sie hob den Kopf. Als sie begriff, dass er wirklich da war, packte sie ihre Tasche. Théo achtete nicht auf sie. Er trank seinen Kaffee. Bis sie aufgestanden und den ganzen Weg vom Tisch bis zu ihm gegangen war, hatte er die Tasse schon wieder abgestellt.
    Sonst trank er seinen Kaffee, nahm seinen Proviantbeutel und ging.
    Diesmal trank er seinen Kaffee, aber den Beutel würdigte er mit keinem Blick. Er machte auch keine Anstalten zu gehen. Seine Hand lag auf dem Tresen. Monsieur Anselme und ich schauten uns an. Ich sah seine Hand. Lili sah sie auch. Die Mutter kam mit ihrer Gehhilfe, die Tasche an den Bauch gepresst, sie
war fast neben ihm. Théo drehte weder den Kopf noch sagte er etwas zu ihr.
    Er verlangte nur eine Telefonkarte. Das sagte er.
    Lili rührte sich nicht, als hätte sie nicht verstanden, also wiederholte er es, den gleichen Satzfetzen, den gleichen Wunsch sehr nachdrücklich. Schließlich zog Lili das Schubfach auf und holte eine Karte hervor, die sie ihrem Vater hinschob, wie sie ihm die Tasse hingeschoben hatte.
    Théo legte einen Schein neben die Tasse. Er nahm die Karte und steckte sie in die Tasche.
    Als er sich umdrehte, stand die Mutter da, die Hand ausgestreckt, sie zitterte, ein Flehen, diese alten Augen, die offene Tasche, die sich langsam vor ihr leerte, weil sie sie schief hielt.
    Théo blieb stehen. Er schaute sie an. Ich sah seinen Blick nicht, aber ich sah das Gesicht der Mutter. Die ausgestreckte Hand sank herab. Das Foto rutschte aus der Tasche, das, auf dem man sie beide nebeneinander auf der Türschwelle sah, man hätte sie für glücklich halten können, wenn man die Geschichte nicht gekannt hätte.
    Théo schaute das Foto an.
    Die Mutter stand reglos da, die Füße wie erstarrt.

M ax hob das Grab für Nan aus, wie er es für alle anderen Toten getan hatte. Es gab nicht viele Lebende im Dorf, deshalb gab es auch nicht viele Tote. Übers Jahr aber doch ein paar. In einem Monat großer Kälte auch mal mehrere hintereinander.
    Manchmal grub Max monatelang kein einziges Grab. Wenn es regnete, verwandelte sich die Erde in Schlamm, es war eine schmutzige Arbeit.
    An dem Tag, als er für Nan grub, schien die Sonne. Ein Erdviereck auf der Südseite, vom Wind geschützt. Er hatte die Jacke ausgezogen. Die Erde, die er aushob, war dunkel, fast schwarz.
    »Die Grabung muss wunderbar sein und so nah wie möglich bei den Ihren.«
    Das sagte er zu mir und zeigte auf das Loch. Die Totenglocke läutete. Sie würde mehrmals läuten an diesem Tag, und auch am nächsten.
    Ich lief zwischen den Gräbern umher. Ging an dem der Familie Perack vorbei.
    Lambert hatte das Foto seines Bruders in einen neuen Rahmen gesteckt und den Rahmen auf den Grabstein gelegt. Ein neuer Blumenstrauß lag auch dabei. Ich holte das
Foto hervor, das in meiner Tasche war. Das Lächeln, die Augen. Die beiden Gesichter waren identisch. Es war dasselbe Kind.

I ch lauerte auf die Ankunft der Fähre aus Aurigny, aber Lambert war nicht an Bord. Es war seine zweite Nacht auf der Insel.
    Ich war in meinem Zimmer. Ich ging zum Waschbecken und sah mein Gesicht an. Ich ließ Wasser laufen. In einer Schale lag ein Stück Seife. Es war ein kleines, weißes Stück Seife, rechteckig, pH-neutral. Es lag in keiner speziellen Seifenschale, etwas Wasser stand darin. Die Seife war aufgeweicht. Als ich sie nahm, blieb sie in meiner Hand kleben. Unmöglich, sie loszuwerden.
    So fand mich Morgane.
    »Hast du ein Problem?«, fragte sie.
    Ich zeigte ihr die Seife.
    »Sieht aus wie ein ertrunkener Vogel.«
    »Ein ertrunkener Vogel?«
    Sie sah mir in die Augen, ins Innere, wie man durch ein Fenster sieht, hinter dem es zu dunkel ist.
    »Das wird schon …«, sagte sie.
    Sie nahm die Seife, warf sie in die Spüle und wischte meine Hand mit dem Handtuch ab. Sie wühlte in meinen Sachen.
    Schließlich ließ sie sich aufs Bett fallen.
    »Wer ist das?«, fragte sie, als sie das Foto sah.
    »Ein Foto … Ich habe es von Nan mitgenommen.«

    »Klaust du etwa bei den Toten?«
    »Ich habe es nicht geklaut … Ich wollte nur … eine Erinnerung.«
    Sie sah sich das Foto genauer an.
    »Wer ist dieses Bürschlein? Eins von denen, die sie aufgenommen hat?«
    »Eins von denen, ja.«
    »Ich mag Kinder nicht besonders. Manche sind nett, wirst

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