Die Brandungswelle
versprochen, oder das geträumt?«
»Sie haben es nicht geträumt.«
Er stand auf.
»Warten Sie hier auf mich?«
Er kam eine Viertelstunde später mit zwei wundervollen Doraden wieder.
»Bleiben Sie sitzen.«
Er briet sie mit Kräutern. Ich hörte die Butter in der Pfanne brutzeln.
Irgendwann drehte er den Kopf, sah mich über die Schulter an.
»Sie wollten mir etwas sagen?«
»Nein, nichts … Nichts Wichtiges.«
Er nickte.
Er schob den Bratenwender unter den Fisch, hob ihn vorsichtig hoch und drehte ihn um. Er gab Zitronensaft dazu.
Er briet die Fische weiter, ohne sie aus den Augen zu lassen, dann drehte er das Feuer aus.
Er ließ die Doraden auf die Teller gleiten. Er sagte, dass Max sie gefangen habe. Mit der Messerspitze schnitt er die Bäuche auf und nahm die Gräten heraus.
»Beim nächsten Mal lade ich Sie ein«, sagte ich.
Er zog eine Braue hoch.
»Kochen Sie?«
Ich schüttelte den Kopf.
»… aber im Gasthof schmeckt es gut.«
»Der Gasthof ist zwangsläufig weniger gut als zu Hause.«
Zwangsläufig, dachte ich.
Er kratzte die Zitronen mit den Zähnen aus, bis auf die Haut. Davon bekam ich einen sauren Geschmack im Mund. Schließlich stand er auf und ging zu seiner Jacke, holte das Foto heraus und legte es vor mich auf den Tisch.
Er zeigte mit dem Finger darauf.
»Erkennen Sie das Foto? Es ist das, was bei Lili gehangen hat. Und das da ist der Junge, den Nan adoptiert hat. Dieser Michel, mit dem sie mich verwechselt hat.«
Ich sah ihn an. Was hatte er begriffen?
Er begann, seine Dorade zu essen.
»Mögen Sie nicht?«, fragte er, weil ich meine nicht anrührte.
»Doch …«
»Was ist los?«
Ich zögerte mit der Antwort.
Er sah mich an. Ich wandte den Kopf ab.
Ich weiß nicht, was er ahnte, aber er musste allein bis auf den Grund dieser Wahrheit gelangen. Wie ich es getan hatte.
Wie weit war er?
Hatte er mit Nan gesprochen?
Jetzt war Nan tot, mit wem konnte er nun reden?
Er zeigte auf die Dorade.
»Sie müssen sie essen, ehe sie kalt ist.«
Als ich ihn verließ, war der Nebel aufgerissen. Das Wetter wandte sich dem Licht zu. Und dann verschwand das Licht. Vielleicht machte mich gerade das hier verrückt, das Fehlen von Licht. Dunkelheit lange vor und lange nach der Nacht.
Und die grenzenlose Weite des Meeres.
H ermann kam Die Tugend abholen. Er nahm auch zwei andere kleine Gipsstatuen mit, die Raphaël Einsamkeit getauft hatte. Hermann wollte eine Ausstellung in Paris organisieren, die Skulpturen und die Zeichnungen zusammen zeigen.
Seit einiger Zeit schlief Raphaël nur wenig, ein paar Stunden pro Nacht. Manchmal legte er sich nachmittags hin. Die schlaflosen Nächte erschöpften ihn. Das Leben draußen bedeutete ihm nichts mehr. Das Atelier war sein Lebensraum geworden. Und es war, als zählte allein noch dieses Leben.
Morgane litt darunter. Ich hörte sie mehrmals streiten. Als ich eines Morgens nach unten kam, weinte Morgane.
Raphaël war im Atelier, er stand vor einem der Denker , sie starrten einander an. Als ich sie sah, fragte ich mich, wer wohl wen betrachtete.
Raphaëls Gesicht war gezeichnet von der Müdigkeit. Er sagte, selbst wenn er schlafe, arbeite er an seinen Skulpturen. Der Gips sei in seinem Schlaf gefangen.
»Rue de Seine, stell dir vor! Ich werde in der Rue de Seine ausstellen …«
Er war glücklich.
Er wollte sich sofort wieder an die Arbeit machen, mit neuen Ideen beginnen.
»Ich fange an zu verstehen …«
Er plante einen Engel mit angefressenen Flügeln. Ein Wesen aus Stein, das gleichzeitig ewig und vergänglich wäre.
»Ich suche ihn schon so lange … Ich glaube, ich nähere mich ihm allmählich.«
Und dann war da noch die Idee mit dem Seiltänzer. Er sagte, alle anderen Skulpturen seien entstanden, um zu dieser einen zu gelangen.
Er brachte die Gipsfigur der Näherin nach Valognes. Er nahm auch einen kleinen Seiltänzer mit.
Die Tür zum Atelier blieb weit offen. Der Stein davor fehlte. Während seiner Abwesenheit war das Atelier ein nackter, stummer Tempel.
Ich ging hinein und wanderte zwischen den Schatten der versteinerten Gestalten umher, deren ausgetrocknete Schöße sich schamlos vor mir öffneten. Die Gesichter waren anonym, aber trotzdem meinte ich sie zu kennen. Ich ging nahe an sie heran. Ohne Angst. Raphaëls Skulpturen waren meine Schwestern, es waren meine Flehenden.
Die Stille im Atelier war zum Schneiden.
Auf dem Fußboden, dort, wo die Näherin gestanden hatte, sah man noch Gipsspuren. Der
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