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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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großen Seiltänzers arbeiten. Morgane hörte ihm zu. Sie hatte sich ein Tuch um die Stirn gebunden. Sie sah ihren Bruder an, als gelangte sie zu einer Einsicht. Einer Einsicht, die sie nicht gesucht hatte und der sie sich doch unterwerfen musste.
    Sie drehte sich zu mir um.
    »Ich habe Lambert gesehen, er war am Hafen … Kam gerade aus Aurigny zurück. Ich glaube, er hat dich gesucht.«
    Ich antwortete nicht.
    Sie fragte nicht nach.
    Sie schwieg lange.

    »Dieser Mann … Dein Mann … Du kannst nicht dein Leben lang …«
    »Sei still.«
    Sie schwieg. Einen Moment, nicht lange.
    »Weißt du was? … Es sind deine Klamotten. Mit solchen Klamotten kannst du keinen Mann finden.«
    »Ich habe nie gesagt, dass ich einen finden will.«
    Sie zuckte die Schultern.
    »Deine Brüste sieht man unter diesen Pullovern gar nicht. Ich kann dir Oberteile borgen, die etwas mehr … Stimmt’s, Raphaël, findest du nicht, dass sie unmöglich rumläuft?«
    »Lass sie in Ruhe …«
    Sie schnalzte mit der Zunge.
    »Weißt du, wenn ich du wäre …«
    »Du bist nicht ich.«
    Sie lächelte.
    »Stimmt, aber wenn ich du wäre …«
     
    Ich ging am Bauernhof vorbei. Ich sah den Vater der Kleinen, der Dung in die Schubkarre lud. Die Schubkarre war schwer. Er schob sie und leerte sie auf einen großen Haufen in der Mitte des Hofes. Die Sau folgte ihm.
    Eins seiner Kinder spielte mit ihr. Auf der Weide standen die Kühe mit den Hufen im Schlamm. Irgendwann hob der Vater den Kopf. Er sah mich an. Sein Blick störte mich nicht.
    Der Junge krabbelte weiter zwischen den Beinen der Sau herum. Es war ein Kind mit leeren Augen und langsamen Bewegungen. Er kletterte auf ihren Rücken und ließ sich auf der anderen Seite herunterrutschen.
    Ein Junge, der aufwuchs wie eine Katze.
    Der Audi stand etwas weiter oben an der Straße. Ich dachte,
ich würde Lambert in seinem Haus vorfinden. Die Tür stand offen.
    Ich rief.
    Ich ging hinein.
    Das Feuer brannte. Ich wartete vor dem Kamin auf ihn, in einem der tiefen Sessel. Ich schlief wohl ein, denn als ich die Augen öffnete, saß er am Tisch und sah mich an.
    »Sie haben einen Schlaf …«
    Weil ich einfach so eingenickt war oder weil er mit mir gesprochen hatte, ohne dass ich es gehört hatte?
    »War es schön in Aurigny?«, fragte ich.
    »Woher wissen Sie das?«
    »Hier weiß man alles.«
    Er holte sich eine Zigarette aus der Jackentasche. Nahm seine Streichhölzer. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.
    »Es war okay, ja.«
    Er zog die Schuhe aus, die Füße auf dem Steinfußboden. Er zündete seine Zigarette an.
    »Ich wollte Dorade essen, aber es gab keine.«
    »Sind Sie deswegen zwei Tage dort geblieben?«
    »Nein.«
    Er erzählte mir von Aurigny, sagte, dass seine Eltern oft dort hingefahren waren. Dass sie dort Freunde hatten.
    Er sah mich an.
    »Dorade essen … Haben Sie Appetit?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich muss Ihnen etwas sagen.«
    Er machte eine Handbewegung.
    »Später …«
    »Nein, nicht später.«
    Er warf seine Zigarette ins Feuer.

    »Doch, später.«
    Er legte den Nacken gegen die Stuhllehne, streckte die Beine aus und schloss die Augen.
    »Ich hätte gern eine Zigarette.«
    Er zeigte mit der Hand auf seine Jacke.
    Ich stand auf. Ging zur Jacke. Berührte das Leder. Holte die Schachtel hervor.
    In derselben Tasche war ein Foto. Ich hielt es ins Licht. Es war das Foto, das lange bei Lili gehangen hatte, das Schwarz-Weiß-Foto, auf dem Lili und ihre Eltern waren, dahinter der kleine Michel.
    Das Foto war in der Tasche der Mutter gewesen. Ich wusste nicht, was er getan hatte, um es zu bekommen. Auch nicht, warum er es getan hatte.
    Ich steckte es wieder zurück.
    Lambert hatte die Augen immer noch geschlossen. Es sah aus, als würde er schlafen. Vielleicht tat er nur so.
     
    Ich ging vor die Tür, um zu rauchen. Nebel lag über Aurigny und auch über dem Meer. Zwischen der Insel und dem Leuchtturm. Die Sonne schob sich zwischen die Wolken, ein paar Strahlen erreichten die Wasseroberfläche, man sah sie auch auf den Feldern, an den Stämmen einiger Bäume schimmernd. Überall wiegte sich das hohe Gras in roten Tönen. Für einen Augenblick konnte man meinen, der Farn am steileren Hang des Hügels stehe in Flammen.
    Und dann siegte die Dunkelheit. Mit einer Regung erbrach der Himmel in der Ferne einen Schwall schwarzer Tinte über dem Horizont, und die Sonne verschwand.
     
    Lambert schlief eine Stunde, dann wachte er auf.
    »Habe ich Ihnen Doraden

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