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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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auf sich genommen.
    Ihre Brust hob sich heftig. Man hörte die Lungen pfeifen.
    Jemand sagte: »Gleich krepiert sie.«
    Alle warteten darauf, dass sie krepierte oder dass sie ging. Der Pfarrer schob die Hände in die Ärmel.
    Die Mutter sammelte ihre Kräfte, wie ein Tier, das verenden wird, die Hände umklammerten wieder die Stange ihrer Gehhilfe, mit gesenkter Stirn lief sie weiter. Alle traten beiseite, um sie
vorbeizulassen. Sie lächelte. Nicht wirklich verrückt, nur voller Hass, sie ging weiter, bis sie vor dem Grabloch stand.
    Es gab Gemurmel, als sie sich vorbeugte. Eine Alte in Schwarz, schwitzend. Ein Weib, das das andere begraben kommt, die Rivalin.
    Nicht die Ältere, aber die schon Gestorbene.
    Die Mutter beugte sich weiter vor, es sah aus, als würde sie umkippen, eine Frau rief Achtung!
    Die Mutter wich nicht zurück.
    Der Wind drückte ihr Kleid an ihre Schenkel. Sie stand vor dem Grab, mit diesem Lächeln auf den Lippen, einem Lächeln, das ihre Zähne entblößte, und plötzlich richtete sie sich auf, beide Hände zitterten, aber umklammerten fest die Haltegriffe, und dann spuckte sie aus.
    Jemand sagte es: »Sie hat ausgespuckt!«
    Ein Raunen ging durch die Menge.

D ie Glocken läuteten. Erst die von Auderville, ein paar Töne, und gleich darauf die von Saint-Germain. Die Glocken von Auderville waren tiefer und langsamer als die von Saint-Germain.
    Ich machte die Tür auf.
    Théo schlief nicht. Er starrte auf die Wand.
    Die Katzen lagen da, als wäre es Nacht. Oder als würden sie über ihn wachen.
    Sein Körper war zusammengesunken, ein Arm lag auf dem Tisch.
    »Sie müssen Licht machen«, sagte ich.
    Er hatte seine Wollmütze bis zu den Augen gezogen. Seine Wangen waren eingefallen. Nans Tod hatte ihn ausgetrocknet.
    Er hatte sein Feuer sterben lassen. Vielleicht wollte er auch sich sterben lassen. Ich warf zusammengeknülltes Zeitungspapier und ein Scheit in den Ofen. Ich suchte Streichhölzer. Für jeden Handgriff brauchte ich viel Zeit. Das weiße Kätzchen schlief zusammengerollt in einer Bettmulde. Als es das Feuer aufflammen hörte, öffnete es die Augen.
    Es war noch Kaffee in einem Topf. Ich wärmte zwei Tassen auf und stellte eine vor Théo hin
    Dann zog ich einen Stuhl heran und setzte mich.
    Er sah mich an. Mit roten Augen. Tränenverquollen.

    »Wie war es …?«
    Was konnte ich ihm sagen? Ich hatte das schwarze Loch vor mir gesehen. Das Loch, in der Sonne und dennoch schwarz.
    Ich erzählte von den Leuten, den Leuten in der Kirche und den Leuten draußen. Ich sagte nichts von der Anwesenheit der Mutter, auch nichts über Lilis Abwesenheit. Ich schob ihm die Tasse hin.
    »Es gab Blumen«, sagte ich.
    Ich nahm meine Tasse. Führte sie an die Lippen. Das aufgewärmte Gebräu war ungenießbar. Ich trank es trotzdem.
    »Max sagt, das Grab hat einen guten Platz, er wird Iris darauf pflanzen.«
    Er sah mich an. Es zerfraß ihn, das Bedürfnis, sich wehzutun, sich fertigzumachen. Ich senkte den Kopf. Ich wollte von etwas anderem sprechen. Sein Blick hinderte mich daran. Wie eine Besessenheit, dieses Bedürfnis, weiter am anderen festzuhalten.
    Der andere. Auch wenn er begraben ist, möchte man mit ihm gehen. Als ich dich zum letzten Mal gesehen habe, dein letzter Morgen, in dem Zimmer, in dem du kein Licht mehr gesehen hast, habe ich dich lange angeschaut. Der Arzt hatte gesagt, dass du nicht mehr zurückkommen würdest. Ich hatte es nicht verstanden. Er hatte es mir erklärt. Es war ein alter Arzt gewesen. Er hatte mich dich ansehen lassen.
    Ich zeigte auf den Kaffee.
    »Trinken Sie …«
    Er trank. Er konnte nicht schlucken. Er ballte die Fäuste.
    »Dieses verdammte Boot! Ich wusste, dass man es hätte verbrennen müssen.«
    Zwei Tränen rollten über seine Wangen. Es waren dicke Tränen, schwer und rund.
    »Man verbrennt keine Boote …«

    Ich wollte mit ihm über Michel sprechen, aber ich hatte keinen Mut mehr.
    Ich wandte die Augen ab.
    »Ich gehe dann mal.«

R aphaël hatte Die Tugend an einen Sammler aus Saint-Malo verkauft.
    »Die Tugend , verstehst du?«
    Die Bronze sollte im Laufe der Woche geliefert werden. Er zog mich in die hinterste Ecke des Ateliers, um sie mir zu zeigen. Die Totennäherin neben ihr schien zu warten.
    »Die werde ich auch gießen lassen.«
    »Wenn du sie gießen lässt, kannst du sie nicht mehr verkaufen. Sie wird zu schön sein.«
    »Ich lasse sie gießen, verkaufe sie und mache neue!«
    Er zog mich zu anderen Skulpturen. Er wollte an seiner Idee des

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