Die Brandungswelle
du mir jetzt sagen, aber es ist mehr grundsätzlich, dass ich sie nicht mag. Warum wolltest du eine Erinnerung?«
»Ich weiß nicht.«
Sie legte das Foto aufs Bett zurück.
»Gab es nichts … Persönlicheres?«
»Nichts, nein.«
Sie sah mich an.
»Was hast du?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe nichts.«
D ie ersten Töne der Totenglocke erklangen, traurig und langsam, vom Nebel erstickt.
Es standen schon ein paar Leute am Straßenrand. Als der Zug vorbeikam, schloss ich mich ihm an. Ein Leichenzug ohne Familie. Wir waren nicht sehr viele und nicht sehr traurig.
Vom Haus zum Friedhof mussten wir nur den Hügel hinauflaufen. Wir verließen La Roche. Irgendjemand neben mir sagte: »Ich hatte Angst, es würde regnen.«
Das Auto nahm die Straße, die bei Théo vorbeiführte. Es fuhr langsam. Es hätte auch anders fahren können, am Hafen vorbei oder um La Roche herum, aber sie hatten beschlossen, diese Strecke zu nehmen, sicher weil Nan sie so oft gegangen war, und auch, weil es die Straße war, die bei Théo vorbeiführte.
Vor seinem Gartentor bremste das Auto. Es hielt nicht an, aber es wurde so langsam, dass man hätte denken können, es habe angehalten. Ich sah Théos Schatten hinter dem Fenster. Reglos. Ein Schatten wie ein Stein.
Das Auto wartete, eine Minute, vielleicht zwei, aber Théo kam nicht heraus. Die alte Nan ging. Sie verließ ihn. Seine Florelle.
Das Auto setzte seinen Weg fort.
Der Pfarrer wartete unter dem Kirchenportal, aufrecht in seiner
Soutane. Der Gedanke an diesen Tod im Boot gefiel ihm nicht. Das Missfallen war auf seinem Gesicht zu lesen. Diese Ungeduld im Blick.
Wir versammelten uns am Tor. Leute kamen aus den Häusern und gesellten sich zu uns, kleine stumme Grüppchen.
Wer sprach, flüsterte. Als der Sarg kam, verstummten selbst die Geschwätzigsten. Der Tod setzte sich durch.
Während wir alle versammelt da standen, hielt ein Taxi. Die Leute drehten sich um. Dann kamen noch andere Autos. Ursula traf ein. Sie sah mich und winkte mir zu. Sie kam über die Straße.
»Alle, die hier sind, haben sich früher keinen Deut um sie geschert, man möchte fast meinen, der Mensch hat kein Gedächtnis !«
Sie zeigte mit dem Kinn auf eine Gruppe Frauen.
Die Männer trugen den Sarg zum Kirchenportal, und der Pfarrer trat zur Seite. Er las seine Messe, hastige Gebete. Er sprach von den Toten, die Nan wiedersehen würde, Tote, die nun ein zweites Mal starben, weil niemand mehr da sein würde, um sich ihrer zu erinnern, wie Nan sich ihrer erinnert hatte. Er sprach von der Sünde, vom Bösen in jedem von uns. Er sprach auch von Vergebung. Seine Stimme hallte. Alle hörten ihm zu, die Köpfe gesenkt.
Ich hielt nach Lili Ausschau. Sie war nicht gekommen.
Während der ganzen Messe blieb Max draußen, abseits, mit seinem Spaten und den zu schmutzigen Stiefeln.
Als wir aus der Kirche traten, richteten sich alle Augen auf das Bistro. Die Zungen lösten sich. Lili hatte alle anderen beerdigt, sprang es von den Lippen. Hier beerdigt man auch, wen man nicht mag.
Der Tod, wie ein Waffenstillstand.
Der Pfarrer ging voran, prüfte den Zustand des Grablochs.
Der Mann, der aus dem Taxi gestiegen war, lief in einem langen Mantel an mir vorbei.
Die Männer ließen den Sarg in die Grube gleiten. Ich hörte das Holz an der Erde kratzen. Das Geräusch der Stricke.
Sie zogen die Stricke heraus.
Nan blieb unten, allein.
Allein in der Erde, mit ihrem Geheimnis.
Eine geduldige Reihe formte sich. Der Pfarrer schaute auf die Uhr und ließ Eile erkennen, er bückte sich, nahm eine Handvoll Erde und warf sie in das Grab. Das war das Beispiel, dem alle folgten. Zögernde Blicke. Es gab ein paar Blumen, ein Strauß Flieder, Iris in einem Topf. Nicht viele. Der Mann mit dem langen Mantel warf auch etwas Erde hinein. Plötzlich ging ein Murmeln durch die Menge. Ein Rauschen, wie ein Flügelschlag.
Und dann mit einem Mal nichts mehr, die Stille war zurückgekehrt. Ich drehte mich um.
Die Mutter war da, nah am Zaun, noch weit weg von uns, sie ging mühsam vorwärts, den Körper schwer auf die Gehhilfe gestützt. Die Metallfüße versanken im Kies. Sie schleppte sich mehr, als dass sie ging. Alle sahen sie an. Niemand rührte sich, um ihr zu helfen. Schließlich blieb sie neben einem Kreuz stehen, etwas abseits. Sie sah von weitem auf das Grabloch, das dunkle Klaffen, den Sarg, den man in der Tiefe ahnte, schon im Dunkeln, in der Kälte. Für das Vergnügen, das zu sehen, hatte sie all die Anstrengung
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