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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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einer Creme auf Lehmbasis, die sie in ihre Haare rieb, wenn sie sie gewaschen hatte.
    »Woran denkst du?«, flüsterte sie mir ins Ohr.
    »An die Zeit, die verstreicht.«
    »Und?«
    »Es ist eine Sauerei mit der Zeit.«
    Sie deutete ein schwaches Lächeln an und legte den Kopf an meine Schulter. Ein Tuch aus dünnem Stoff war um ihr Handgelenk gebunden, durchsichtige Seide, die aus ihrer Haut gewebt zu sein schien.
    »Langweilst du dich nicht?«, fragte sie mich.
    Sie lächelte nicht mehr.
    Wir sprachen über Männer. Wir sprachen über Lambert. Auch über dieses Hundeleben.
    Wir sprachen vom Süden und von der Sonne.
    Ich wäre froh gewesen, wenn ich über dich hätte sprechen können. Über dein Leben, deinen Tod.
    Ich schob einen Finger unter den Seidenstoff.
    Der Schatten des Gehenden breitete sich immer noch auf dem
Fußboden aus. Auch andere Schatten. Andere Hände. Überall der mächtige Abdruck der Sockel.
    Vor uns thronte weiterhin majestätisch inmitten des plötzlich mit Licht gesättigten Raums die Erinnerung an die Totennäherin .
    In der folgenden Nacht schlief ich wenig. Ich schlief schlecht. Es kam mir so vor, als hörte ich Schritte im Flur. Als ich die Tür öffnete, blickte ich auf die grauen und kalten Stufen. Es war niemand da. Ich beendete die Nacht auf dem Fußboden, an der Heizung. In eine Decke gewickelt, auf das Bett schauend.
    Am Morgen sah ich mein Gesicht im schartigen Spiegel. Den Raum hinter mir, die Umrisse des leeren Betts.

D ie Sau hatte ihr Gatter verlassen, sie war auf dem Parkplatz und wühlte mit dem Rüssel in den Mülltonnen des Gasthofs. Sie hatte Kartoffelschalen und alte Möhren gefunden. Niemand wunderte sich über diese Sau am Kai, die sich vollfraß, während sie die Boote ablegen sah.
    Ich verbrachte den Tag an der Steilküste.
    Als ich zurückkam, sah ich sofort, dass Morgane auf meine Heimkehr gelauert hatte. Sie stürzte mir entgegen. Sie umarmte mich. Sie lachte, ihre Lippen an meinem Hals. Ich verstand den Grund ihrer Freude nicht. Ich fragte, was mir ihr los sei.
    »Ich fahre!«, antwortete sie.
    Zwischen ihrem Lachen diese zwei Worte: Ich fahre.
    »Was heißt das, du fährst?«
    »Nach Paris! Das hat sich so ergeben, im Gespräch, Hermann sucht jemanden für seine Galerie.«
    »Aber … Das kannst du doch gar nicht!«
    »Scheiß drauf, ich werd’s lernen! Er braucht ein Mädchen … Er sucht schon seit zwei Monaten. Er sagt, es sei ein Job für mich.«
    Sie griff nach ihrer Tasche, wühlte darin herum und hielt mir eine Fahrkarte von Cherbourg nach Paris vor die Nase.

    »Saint-Lazare, so heißt der Bahnhof, wenn man dort ankommt … Stell dir vor, ich werde in Paris wohnen!«
    »Aber wo genau? Paris ist groß!«
    »In einer kleinen Wohnung über der Galerie. Dusche, Bett, alles da, nicht groß, aber gut gelegen. Das Fenster zu einer Gasse mit echtem Pariser Pflaster.«
    »Na wenn es echtes Pariser Pflaster gibt!«
    Ich ärgerte mich über meine Antwort. Ich sagte es ihr und entschuldigte mich.
    Es war ihr egal. Sie ließ sich aufs Sofa fallen, konnte aber nicht sitzen bleiben und sprang sofort wieder auf.
    Ich sah sie an.
    Sie würde also weggehen.
    Sie würde es wagen.
    »Und Raphaël, was sagt er dazu?«
    »Er sagt nichts. Er freut sich für mich. Ich werde in der Nähe einer Metro-Station wohnen. Hermann nimmt mich einen Monat auf Probe. Wenn es läuft, bleibe ich da.«
    »Und wenn es nicht läuft?«
    »Es wird laufen!«
    Sie holte die Ratte aus ihrer Kiste und tanzte mit ihr. Sie sang, Fetzen von Liedern, deren Text sie kaum konnte, ich erkannte Les Filles de Pigalle , Revoir Paris  …
    Plötzlich blieb sie stehen.
    »Und meine Ratte?«
    Sie sah ihr Tier an.
    »In Paris mögen sie bestimmt keine Ratten … Außerdem werde ich wohl wegen der Arbeit die meiste Zeit nicht in der Wohnung sein … Und sie ist an diese Umgebung hier gewöhnt …«
    Sie sah mich an.
    »Worauf willst du hinaus?«, fragte ich.

    »Auf gar nichts … Ich hab nur gedacht, du könntest vielleicht …«
    Ich wehrte mit der Hand ab.
    »Frag Raphaël!«
    »Raphaël! Für den zählt im Moment nur seine Arbeit. Er lässt sie krepieren …«
    Sie hob den Kopf und sah mich mit großen, flehenden Augen an.
    Ich betrachtete das Tier.
    »Du kannst sie doch freilassen. Ratten sind schließlich daran gewöhnt, bei den Booten zu leben.«
    Sie zuckte die Schultern.
    Die Ratte hatte ihre Erregung gespürt, die Wärme ihrer Haut, den Schweiß. Sie krabbelte auf Morgane herum, auf ihren Armen,

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