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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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wiederkomme, bringe ich dir ein anderes mit, in dem noch mehr Wörter stehen.«

    »Gibt es immer noch mehr Wörter?«
    Sie nickte.
    »Immer, ja.«

W ir brachen kurz vor acht auf. Morgane setzte sich auf die Rückbank. Sie wollte es so.
    Wir fuhren am Meer entlang, durch Saint-Germain und Port-Racine. Raphaël saß am Steuer. Die Koffer waren im Kofferraum verstaut. Morgane schaute aufs Meer, das Gesicht an der Scheibe. Ich sah ihr Profil im Rückspiegel. Ihre plattgedrückten Lippen, und wie sie auf das Meer starrte, als wollte sie es mitnehmen.
    »Es sieht so aus, als wolltest du es mitnehmen«, sagte ich.
    Sie nickte.
    Deswegen wollte sie allein hinten sitzen. Raphaël fuhr langsam. Der Zug ging um neun, wir hatten Zeit. Ich glaube, er wollte nicht zu früh am Bahnhof ankommen.
    Er musste etwas herumsuchen, ehe er einen Parkplatz fand. In der Bahnhofshalle holte er aus einem Automaten Getränke und zwei in Plastik gewickelte Sandwiches. Morgane war schon zum Bahnsteig vorgegangen. Sie winkte uns heftig, weil der Zug schon da war und wir nicht schnell genug kamen.
    Raphaël sah sie an, wie sie das Meer angesehen hatte. Mit derselben Eindringlichkeit. Ich glaube, er wollte, dass sie fuhr. Dass es zu Ende war.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich.

    »Ich werd dran krepieren.«
    Er versuchte zu lächeln. Er ging zu ihr. Ihre Koffer standen schon auf dem Trittbrett, ein junger Mann hatte ihr geholfen. Eine Stimme kündigte über Lautsprecher die Abfahrt des Zuges an, er würde in Valognes, Carentan, Bayeux, Caen, Lisieux und schließlich Paris halten.
    Morgane sah uns an, der junge Mann hinter ihr schob die Koffer weiter und brachte sie ins Abteil. Sie drehte sich um, der junge Mann lachte über etwas, das sie zu ihm gesagt hatte.
    Dann stieg sie wieder aus, um uns zu umarmen, Raphaël und mich. Ich liebe dich, das sagte sie, ich liebe dich über alles! Ich lächelte. Ich liebe dich hatte sie auch zum Pferd gesagt. Und zu ihrer Ratte. Sie lachte. Es waren noch fünf Minuten Zeit, aber in Gedanken war sie schon weg.
    Sie sprach von Max und von Lambert, von den Perlenkronen, die sie zurückgelassen hatte.
    »Du kannst sie fertigmachen, wenn du willst. Die Anleitung liegt dabei.«
    Sie sagte all die Sachen, die man sagt, wenn man weggeht.
    »Pass gut auf dich auf, zieh meine T-Shirts an … Kümmere dich ums Pferd!«
    Das ließ sie mich versprechen.
    »Und schlaf mit Lambert …«
    Das versprach ich nicht.
    Sie umarmte mich nochmal.
    Raphaël verschlang sie mit den Augen. Sie wandte sich ihm zu. Sie hatte Angst, Angst vor dem Moment, wo sie sich voneinander lösen mussten. Seine Hände in ihrem Haar. Ihre geschlossenen Augen.
    Ich zog mich zurück.
    Sie atmeten einander.

    Die Schnürsenkel an ihren weißen Turnschuhen waren offen, der Hosensaum zerrissen, er schleifte auf dem Boden, blieb an den Hacken hängen.
    Sie pressten sich aneinander, klammerten sich aneinander.
    Ich wusste nicht, was sie sich zuflüsterten.
    Der Bahnhofsvorsteher lief vorbei, und Morgane löste sich, entfernte sich. Sie hielten sich noch bei den Händen, Morgane war schon im Zug und er auf dem Bahnsteig. Raphaël gab ihr die Tüte mit den Sandwiches und den Getränken.
    »Dort gibt es Telefon, du rufst an, wenn du da bist.«
    Er sagte noch mehr. »Sei vorsichtig, pass auf dich auf …«
    Schließlich gingen die Türen zu. Vor ihr, zwischen ihnen. Morganes Gesicht, die verzerrten Lippen, weil sie weinte, ihre weißen, an die Scheibe gepressten Hände.
    Sie flüsterte Worte, die er nicht mehr hörte. So blieben sie stehen, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Leere Blicke, zwei orientierungslose Geschöpfe, die lernen mussten, nicht mehr zusammenzuleben.
     
    Auf dem Rückweg fuhr ich. Es regnete. Die Scheibenwischer quietschten. Raphaël starrte auf die Straße.
    Ich stellte das Auto im Hof vor der Griffue ab. Morganes Kaffeeschale stand noch auf dem Tisch. Ein runder Schatten auf dem Tischtuch.
    Die Stille.
    Die Perlenschachtel, eine offene Packung Kekse, ihre geballte Anwesenheit. Ihre Decke zusammengerollt vor dem Fernseher, der Platz der Ratte. Die Wollknäuel, die Nadeln, ein paar Reihen eines gerade angefangenen Pullovers. Die gelben Lederstiefel im Flur. Als sei sie für eine Stunde weg, für einen Tag.
    Morgane kam mittags in Paris an. Sie sollte anrufen, sobald sie bei Hermann wäre. Wir warteten. Kurz vor zwölf stellten wir
uns neben die Telefonzelle und warteten weiter. Die Sau stand am Kai. An den Hungertagen benahm sie sich wie

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