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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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ihrem Blick, wenn sie meinen sehen würde.
    Ich öffnete die Tür. Lambert war da, das Gesicht zerknittert. Lili sah mich an. Sie saß ihm gegenüber. Am selben Tisch. Sonst war niemand da.
    Ich hatte meine dicke Regenjacke an. Ich hätte mich am liebsten entschuldigt, da zu sein. Ich sagte es, glaube ich, stammelte. Entschuldigt …
    Sonst sagte ich nichts. Ich sah Lambert etwas länger an als sonst und legte die beiden Fotos auf den Tisch.
    Lili sah sie. Sie wurde blass.
    Hatte sie Lambert geliebt? Eine Liebe aus Lügen und Verschweigen, mit so finsteren Winkeln des Ungesagten, dass man fast die Meute heulen hörte.
    Ändern sich die Stimmen mit der Zeit? Man sagt, nur die Augen ändern sich nicht. Aber was ist mit den Augen, die
sich schließen? Du hattest gesagt, dass ich nach dir lieben müsse.
    Ich sah Lambert an, sein Gesicht, seine Hände.
    Lili nahm die Fotos.
     
    »Ich hab sie so oft herumschreien gehört … Beschimpfungen ohne Ende. Wenn er genug hatte, ist er gegangen, zu ihr. Sie haben mir nie was gesagt, aber irgendwann hab ich’s begriffen …«
    Lili stand auf. Sie blieb hinter dem Tisch stehen und sah durch den kleinen Fensterschlitz über dem Vorhang nach draußen.
    »Dein Bruder ist oft auf den Hof gekommen …«
    Lambert zuckte zusammen. Lili sprach weiter.
    »Er hat die Tiere geliebt, er hat sich immer an sie geschmiegt und sie gestreichelt. Ich hab lange gedacht, er sei ein Junge aus der Zuflucht , wie alle anderen … Ich hab mich nicht um ihn gekümmert. Meine Mutter wollte nicht, dass er ins Haus kommt. Ich glaube, ich habe gehört, dass Nan ihn adoptiert hat, noch bevor ich wusste, was das heißt.«
    Lambert hörte ihr zu.
    »Hast du niemals Fragen gestellt?«
    »Was sollte ich denn fragen? Es war mir egal, für mich war er ein Junge von der Straße, weiter nichts, nur dass dieser nicht wieder wegging wie die anderen …«
    Lambert verkrampfte sich noch mehr.
    Ich saß am Tisch, ihm gegenüber. Ich sah sein Gesicht, das Beben seiner Lider, als die Erregung ihn erstarren ließ. Die winzigen Schweißtropfen über seiner Lippe.
    Erinnern ist schmerzhaft. Ich spürte, wie die Bilder in ihm aufwallten, die Lili ihm gab, und jedes einzelne ging ihm so nah.

    »Irgendwann haben sie sich wieder angeschrien, das war das eine Mal zu viel, da habe ich begriffen, dass er dein Bruder war.«
    Lambert wurde blass, ich dachte, er würde hinausrennen und sich übergeben.
    »Ich habe sie verflucht.«
    Er ballte die Fäuste.
    Die Mutter erhob sich aus ihrem Sessel. Eine Hand auf den Tisch gestützt, die andere an der Kehle. Sie kam näher. Sie sahen sich an, die beiden, Mutter und Tochter.
    »Und sie, die alles ertragen hat, ohne mit der Wimper zu zucken!«
    Lambert stand auf.
    »Du hättest mir schreiben, es mir sagen können!«
    »Es gab einen Moment, wo ich daran gedacht habe … Ich hatte mir deine Adresse besorgt, von dem Gärtner, der sich um dein Haus kümmerte.«
    Sie legte die Fotos zurück, eines neben das andere, rieb sich das Gesicht – die gleiche Geste wie die ihres Vaters.
    »Du hast daran gedacht, aber du hast es nicht getan.«
    »Ich war fünfundzwanzig … Ich hatte keinen Mann, kein Kind. Wenigstens hatte ich ein Geheimnis. Ich habe gelernt zu schweigen. Meinen Vater habe ich damit halten können. Er wusste es. Er sprach nicht mehr vom Weggehen. Er würde nicht glücklicher sein als wir, das habe ich mir tausendmal gesagt.«
    Die Mutter war bei uns angelangt, sie drückte ihren Bauch an den Tisch. Ich atmete ihren Greisinnengeruch ein. Ein Leben voller Schweigen. Lili richtete den Blick auf sie. Es war ein Blick ohne Liebe. Ohne Erbarmen.
    »Was, Mutter, es ist nicht gesagt, dass er glücklicher gewesen wäre als wir?«
    Ein Sieg ohne Ruhm. So traurig, und gegen wen gewonnen? Die Mutter stammelte. Es war erbärmlich.

    Lambert rieb sich die Augen.
    »Warum ist er dann weggegangen?«
    Lili erstarrte, eine Hand auf dem Tresen. Sie lachte kurz auf.
    »Warum geht man? Warum bleibt man? Wer weiß das schon …«
    Ein kurzes Zögern. Ein leerer Blick.
    Sie hatte gesprochen, ohne ihn anzusehen.
    Sie wandte sich ab.
    »Glaubst du, ich habe dich nicht gesehen, wenn du mit deinen Großeltern zum Grab gekommen bist? Dreimal im Jahr. Du bist nie vorbeigekommen und hast guten Tag gesagt. Glaubst du, das war schön für mich?«
    Er sah sie an, schockiert von dem, was sie gerade gesagt hatte.
    »Wir waren am Meer, haben Blumen reingeworfen! Paul war da, ganz nah, lebendig, spielte vielleicht

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