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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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über das Papier strichen, hörte seinen leise pfeifenden Atem.
    Auf dem Tisch standen ein Ätherfläschchen und Watte. Die Krankenschwester war da gewesen. Théo räumte nicht mehr auf.
    »Dieses Foto gehört Ihnen nicht …«
    Mehr sagte er nicht, nur das, dann legte er das Bild langsam auf den Tisch.
    »Théo, Sie müssen mir sagen …«
    »Was muss ich Ihnen sagen?«
    »Wer ist dieses Kind?«
    Er lächelte resigniert.
    »Das ist Michel.«
    »Das weiß ich.«
    »Wenn Sie es wissen, warum fragen Sie mich dann?«
    Er sagte es sehr schroff. Es war ein eigenartiger Moment, ich dachte, er würde hinausgehen und mich einfach sitzen lassen. Ich glaube, er hatte Lust, es zu tun.
    Ich glaube auch, dass er es nicht machte, weil ihm einfiel, dass Nan tot war und dass das alles überhaupt nicht mehr wichtig war. Ein Schatten glitt über sein Gesicht, ein tiefer Schmerz. Es verging viel Zeit, dann nahm er das Foto wieder in die Hand.
    Er schwieg lange, bevor er anfing zu sprechen. Seine Stimme war nicht wiederzuerkennen.
    »Diesen kleinen Zug, den er an der Schnur hält, den habe ich ihm gebaut …«
    Er sprach von dem Kind, mit bedachten Worten.
    »Manchmal, wenn wir ihm gemeinsam zusahen, hatte
ich wirklich das Gefühl, Michel ist ihr Kind, ihr Kind und meins.«
    »Ihr Kind, mehr als Lili?«
    Er dachte darüber nach und sagte schließlich: »Mein Kind, ja, mehr als Lili.«
    Er beugte sich nieder und hob das weiße Kätzchen hoch. Er streichelte es nicht, er berührte es nur.
    »Er war ein wunderbarer Junge … Er betrachtete die Welt voller Staunen und doch manchmal mit einer gewissen Traurigkeit.«
    Seine Hände blieben reglos, schmiegten sich an den weichen Rücken des Kätzchens.
    Ich holte das Medaillon hervor und legte es neben das Foto.
    Die beiden identischen Gesichter.
    »Sie wussten es, nicht wahr?«
    Er sah mich an. Seine Augen waren plötzlich außerordentlich klar. Er hätte sagen können, dass mich das alles nichts angehe. Dass ich hier nichts zu suchen hätte, er hätte mir die Tür weisen können und ich wäre gegangen.
    Aber er sagte nichts.
    Er stand auf und ging zum Fenster. Er schaute hinaus. Seit Nans Tod schien er jeden Kampf aufgegeben zu haben.
    »In jener Nacht kam der Wind von Westen.«
    Er drehte sich um. Streifte mit dem Blick die Fotos.
    »Der Westwind trägt oft die Körper an Land.«
    Er nahm die Fotos wieder in die Hand.
    »Florelle ist aus dem Haus gegangen, als sie die Sirenen gehört hat. Sie hat die Nacht am Strand verbracht, ist auf und ab gelaufen. Sie hat auf ihre Toten gewartet.«
    Er setzte sich wieder an den Tisch. Seine Augen waren dunkel.

    »Und als sie dann dieses Kind gefunden hat, am Morgen … Es war auf ein kleines Floß gebunden, nicht mal sehr nass … Sie hat das Floß zwischen die Felsen geschoben. Ich habe es ein paar Tage später dort weggeholt.«
    Seine Hände legten sich übereinander.
    »Er war klein, kaum zwei Jahre alt. Sie hat ihn versteckt, ohne zu wissen, ob er überleben würde … Dann, als sie wusste, dass er es schaffen würde, hat sie ihn weiter versteckt, damit ihn niemand sah.«
    »Hat sie niemandem etwas gesagt?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Für sie war er der, den ihr das Meer zurückgegeben hat, verstehen Sie … Seit Jahren hatte sie darauf gewartet. Ein lebendiges Kind im Austausch für alle, die das Meer ihr genommen hatte.«
    »Aber Sie, Sie wussten doch, wer er war? Sie wussten, dass er einen Bruder hatte?«
    »Ja, ich wusste es … Florelle auch, im Grunde wusste sie es auch, aber sie verdrängte es lieber.«
    Knotige Venen durchzogen seine Hände. Im Lampenlicht sah das Blut, das hindurchfloss, schwarz aus.
    »Sie hat Michel aus den Wellen geborgen.«
    »Er heißt Paul.«
    »Paul, ja … Sie hat an nichts anderes gedacht als daran, ihn zu retten. Danach waren die Dinge so …«
    »Die Dinge …«
    »Sie hat ihn geliebt.«
    Ich nahm die Fotos an mich. Lamberts Gesicht legte sich über die beiden Gesichter.
    »Sie haben Lambert und Paul daran gehindert sich zu treffen! Sie haben den einen des anderen beraubt, obwohl sie schon das Wichtigste verloren hatten …«

    »Ich habe oft daran gedacht.«
    Plötzlich widerte Théo mich an. Dass er dazu imstande gewesen war.
    »Und als er wiedergekommen ist, hat er Sie im Hof gesehen … Sie und dieses Kind, seinen Bruder, und Sie haben ihm nichts gesagt!«
    Ich stand auf. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer, ich musste an die frische Luft.
    Er streckte die Hand aus.
    »Gehen Sie

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