Die Brandungswelle
mich. Ich spürte ihren schweren Atem.
»Ich war es nicht«, wiederholte sie.
Sie schüttelte mehrmals den Kopf, als wollte sie Gespenster verjagen.
Sie umklammerte meinen Arm. Ihre Augen waren nur noch Schlitze. Wie Eidechsenaugen.
»Was waren Sie nicht?«, fragte ich schließlich.
Sie klatschte in die Hände.
»Ich war es nicht … Sie war es, sie hat Michel alles erzählt … Und danach musste ich hierherkommen.«
Sie beendete ihren Satz in einem Speichelfaden. Das Kinn auf dem Hals, die Augen hoffnungslos leer.
Ich schaute auf. Lili stand neben uns. Sie sah uns an. Ich dachte, sie würde das Gesicht ihrer Mutter abwischen kommen, aber sie ging an ihr vorbei, ohne etwas zu tun. Sie lief zum Fenster und starrte lange hinaus.
»Sie hatten sich wieder mal gestritten. Es war nicht das erste Mal, dass er sie zum Weinen gebracht hatte, aber dieses Mal hat er seinen Koffer geholt und gesagt, er gehe weg. Er würde mit Nan leben. Er hat gesagt, dass er glücklich sein wolle, Michel sei erwachsen, wir könnten ihm erzählen, was wir wollten, es sei ihm egal. Er hat auch gesagt, dass man Menschen so lange danach nicht mehr ins Gefängnis stecken würde. Ich habe die Vorstellung nicht ausgehalten, dass er glücklich wird, dass er auch nur ein bisschen glücklich wird.«
Sie lächelte kurz.
»Am nächsten Tag hab ich Michel vor der Schule erwartet. Das Bootsunglück, seine Eltern, ich hab ihm alles erzählt.«
Sie drehte sich um.
»Ich könnte dir erzählen, dass ich es für ihn getan habe, damit
er die Wahrheit hört … Aber das stimmt nicht. Ich könnte dir erzählen, dass ich es für Lambert gemacht habe, oder um ihn zu verletzen, da wär schon mehr dran.«
Sie senkte die Augen und sah dann ihre Mutter an.
»Aber ich habe es für sie getan, für alles, was er sie hat erleiden lassen.«
»Wie hat Michel reagiert?«
»Na ja … Er war ohnehin schon sehr … sehr abgeklärt. Ich glaube, für ihn hat’s nicht viel geändert, ob er nun verlassen worden oder im Meer verloren gegangen war … Am Abend ist er dann auf dem Hof vorbeigekommen und hat mit meinem Vater gesprochen. Er war jung, gerade mal siebzehn. Ich war dreißig. Er hat nach seinen Eltern gefragt, nach den Umständen des Unfalls … Ein paar Wochen später ist er weggegangen, ohne jemandem Bescheid zu sagen.«
»Ist er deswegen gegangen?«
»Deswegen oder wegen was anderem … Ich glaube, früher oder später wäre er sowieso gegangen …«
Sie machte die Tür auf, weil die Sonne schien. Dann nahm sie den Arm ihrer Mutter und führte sie nach draußen zu einer Bank. Ich sah ihr nach, mit der Last der Alten am Arm. Mehr Tochter als Frau. Hoffnungslos Tochter.
Hatte sie lieben können? Hatte sie Frau sein können? Dieser Drang in ihr zu zerstören, um nicht an ihrem eigenen Schmerz einzugehen.
»Lili?«
Sie drehte den Kopf.
»Du hast ihm vom Unglück erzählt, aber du hast ihm nicht erzählt, dass er einen Bruder hat, stimmt’s?«
Sie zögerte ein paar Sekunden, ich spürte den Moment, als sie nicht wusste, was sie mir antworten sollte. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
Ich nahm die Fotos, die auf dem Tisch liegen geblieben waren. Diese Stirn, diese kindliche Hartnäckigkeit auf den Lippen. Sah Michel Lambert ähnlich? Zweifellos.
Nan war nicht so verrückt gewesen, sie zu verwechseln. Sie hatte in den Zügen des Älteren das Gesicht des Jüngeren wiedererkannt.
L ambert drehte kaum den Kopf, als ich das Zimmer betrat. Er starrte ins Feuer. Ein erloschenes Feuer. Die graue Asche bildete einen Haufen, in dem ein paar Holzscheite lagen, an denen die Flammen geleckt hatten.
Ich ging zu ihm.
Ich hätte ihn gern berührt, mich an ihn geschmiegt, ihm meine Wärme gegeben. Meine Hand war wenige Zentimeter von seiner Schulter entfernt. Er kam mir plötzlich so fern vor.
»Weiß er, dass es mich gibt?«
Diese Frage stellte er mir. Ohne den Kopf zu wenden.
Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte.
»Wegen ihm hat Nan hier das Spielzeug gestohlen … Weil es Pauls Spielzeug war … Sie wollte, dass er damit spielte …«
Er sah sich um, als suchte er Nans Anwesenheit, die Spuren ihrer Besuche.
»Als ich ihn an dem Tag auf dem Hof gesehen habe, wo er das Kalb herumführte, habe ich ihn nicht erkannt. Wie lässt sich das erklären?«
»Sie dachten, er sei tot.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Ich dachte, ja. Aber ich hätte ihn erkennen müssen. Ich hätte ihn ansehen müssen! Stattdessen habe ich den
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