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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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nicht …«
    Ich sah ihn an. Entsetzen oder Mitleid. Ich fand mich draußen wieder. Auf den Stufen sitzend, zitternd, gleichgültig für die Kälte wie für die Katzen.
    Max sagte, die Mutter des Heringshais verlasse ihre Kleinen nach einem Jahr, und sie wüssten dann nicht mehr, dass sie eine Mutter gehabt hatten. Hatte Paul seine Eltern vergessen? Hatte er eine andere Mutter liebgewonnen? Mir war speiübel. Ich klammerte mich ans Geländer. Den Oberkörper vorgebeugt, die Hände auf dem Bauch.

T héo saß immer noch unter der Lampe, im gelben Licht der nackten Glühbirne. Er hatte sich nicht gerührt. Er hatte auf mich gewartet, als hätte er gewusst, dass ich zurückkommen würde. Sicher hätte er noch Stunden so auf mich gewartet, regungslos, in seinen Wollmantel gehüllt. Mit eingefallenem Gesicht. Das weiße Kätzchen schlief, zu einer Kugel zusammengerollt, auf seinem Schoß.
    Ich setzte mich wieder auf meinen Platz.
    Wir sagten lange nichts. Unser Schweigen kam mir endlos vor. Dann sah mich Théo an.
    »Was wollen Sie wissen?«
    »Paul … Sie haben ihm den Namen eines anderen gegeben.«
    »Das mussten wir.«
    »Wer war Michel Lepage?«
    »Ein zweijähriges Kind. Eine Frau hatte ihn Florelle anvertraut, eine Art Zigeunerin, sie wollte ihn nicht mehr, das Kind war schon sehr krank, als sie es ihr gebracht hat. Sie wusste, dass es nicht überleben würde.«
    »Ich habe das Register gesehen. Er ist ein paar Tage vor dem Unglück von Nan aufgenommen worden.«
    »… und starb ein paar Tage danach an einer Rippenfellentzündung.«

    Ich sah ihn an.
    »Dieses Kind existierte für niemanden mehr.«
    »Und es hatte einen Namen …«
    »Es hatte einen Namen, ja … Wir haben ihn hinter dem Haus begraben.«
    Belastendes Schweigen folgte, nachdem er das gesagt hatte.
    »Jemand hätte kommen und nach ihm fragen können. War diese Frau seine Mutter?«
    »Sie hat ihn abgegeben, sie wollte ihn nicht mehr.«
    Er legte die Hand flach auf den Tisch.
    »Als ich Paul zum ersten Mal gesehen habe, schlief er im Zimmer der ganz Kleinen. Florelle hat zu mir gesagt, dass das Meer ihn ihr zurückgegeben hat. Ich habe nicht gleich verstanden … Erst danach, als sie mich gebeten hat, das Floß vom Strand wegzuholen.«
    Eine erstickte Klage entrang sich seiner Brust, fast wie ein Schluchzen.
    »Dieser tote Junge, verstehen Sie, wir konnten nichts mehr für ihn tun. Florelle hatte nicht mal die Adresse der Mutter, um sie zu benachrichtigen.«
    Er sank in sich zusammen, sein Körper wirkte noch zerbrechlicher. Er spreizte die Hände, als wäre das Kind noch da, vor ihm.
    »Florelle hat in einer Nacht sein Leichentuch genäht, er war so klein. Sie hat keinen Namen draufgeschrieben.«
    »Sie haben ihn so in die Erde gelegt?«
    »In einer kleinen Holzkiste, mit diesem Leichentuch.«
    »Man könnte denken, Nan habe ihn getötet … Oder sie habe ihn sterben lassen, um seinen Namen einem anderen zu geben.«
    Théo nickte. Er presste die Hände aneinander.
    »Daran habe ich auch gedacht.«

    Ich starrte auf den Tisch. Ich wollte die Worte festhalten, alles, was er mir gesagt hatte. Ich wollte es für immer bewahren.
    »Im Dorf hat niemand je etwas geahnt?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Die Mutter hat es sehr bald begriffen, als Michel anfing, auf den Hof zu kommen … Sie hat mich damit erpresst. Sie hat gesagt, wenn ich sie verlasse, würde sie zur Polizei gehen, sie würde alles sagen, und man würde Florelle das Kind wegnehmen. Sie hat damit gedroht, dass Florelle ins Gefängnis gehen müsse. Es gab Gerüchte, er sei unser Sohn, von Florelle und mir. Florelle war niemals schwanger gewesen, aber sie trug ja immer so weite Kleider … Sie war eine gute Mutter, wissen Sie …«
    »Und Sie, waren Sie ein guter Vater für ihn?«
    Er war verwirrt.
    »Ich war für niemanden ein guter Vater.«
    Das Lächeln verblasste zu einem Schatten, der auch verblasste, bis keine Spur mehr übrig blieb.
    Er schloss wieder die Augen.

I ch ließ ihn schlafen. Ich dachte über den Zufall nach, über den Einfluss des Zufalls. Die Wahrheit wäre sicher nie ans Licht gekommen, wenn ich nicht dieses Foto bei Nan gefunden hätte. Paul hätte nur ein anderes T-Shirt tragen müssen, nicht das mit den drei kleinen Booten.
    Wusste Ursula davon?
    Sicher war auch sie eine Mitwisserin. Ich hörte das Ticken der Pendeluhr, den Atem der Katzen, der sich mit dem raueren von Théo mischte. Dem Stöhnen im Schlaf.
    Er schlief vielleicht zehn Minuten. Dann richtete er

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