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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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… Was hat sie Ihnen gesagt?«, fragte er und zeigte zur Terrasse.
    Ich wiederholte Lilis Worte.
    »Glauben Sie, dass mein Bruder hier im Haus war, nachdem er es erfahren hat? Ich hätte das getan, ich wäre gekommen.«
    »Davon hat Lili nichts gesagt.«
    Er schaute sich wieder um.
    »Morgen gehe ich nochmal zu Nan. Kommen Sie mit?«
    Er war glücklich.
    Müde.
    Er hatte Angst.
    Aber er war glücklich.
     
    Eine Tochter, die sich an einem Vater rächt. Die sich rächt, weil sie nicht sein Liebling war … Weil es keine Liebe gab. Wohin sie auch schaute. Diese verzweifelte Suche. Ich dachte an Raphaëls Skulpturen, die Flehenden .
    Ich fragte mich, was er von Lili verstanden hatte, um solche Frauen zu formen. Ob er etwas gespürt hatte oder ob es von woandersher kam. Von einer anderen Geschichte.
    Die Geschichten gleichen sich.
    Und es gibt immer andere Geschichten. Manchmal genügt ein Nichts, ein Angelusläuten, Menschen begegnen sich, sie sind da, am selben Ort.
    Menschen begegnen sich, die sich niemals hätten treffen dürfen. Die sich hätten treffen müssen, sich aber nicht gesehen haben. Die sich treffen und nichts sagen.
    Sie sind da.

T héo nahm die Brille ab, rieb seine Augen. Ich war schon lange da, und wir hatten viel geredet.
    Lili hatte ihre Mutter zu sich geholt, einige Monate nach Michels Abreise. Sie hatte alles mitgenommen, und die Mutter war ihr gefolgt. Théo war allein im Haus zurückgeblieben.
    »Warum sind Sie nicht zu Florelle gezogen? Nichts hielt Sie mehr zurück.«
    Er schüttelte langsam den Kopf.
    »Es war zu spät … Ich hatte die erste Katze. Sie hatte sechs Junge bekommen, die Jungen sind gewachsen, dann sind andere Katzen gekommen.«
    Er lächelte. Ich glaube, es war das letzte Mal an diesem Tag, dass ich ihn lächeln sah.
    Er stand auf.
    »Jetzt bin ich alt, das ist alles nicht mehr wichtig.«
    Er ging zu der Tür, die in ein fensterloses Zimmer führte. Dort verschwand er. Ich hörte eine andere Tür knarren. Kurz darauf kam er mit einer kleinen Pappschachtel zurück.
    Er stellte die Schachtel auf den Tisch. Darin waren alle Briefe, die er aus dem Kloster bekommen hatte. Er setzte sich wieder hin.
    »Einige Zeit nach seiner Ankunft hat mir Michel den ersten
Brief geschrieben. Ich habe ihm geantwortet. Er hat uns nie verheimlicht, wo er war, aber Florelle wollte es nicht hören. Sie dachte, er würde über das Meer zurückkommen, wie beim ersten Mal.«
    Er legte die Hand auf die Schachtel.
    »Zwanzig Jahre in Briefen …«
    Er zog einen beliebigen Brief heraus, las ihn und gab ihn mir. Er war vom November des vergangenen Jahres.
    Eine klare Schrift, blaue Tinte.
    Mein lieber Théo,
     
    hier schneit es.
    Der Schnee fällt, verwirbelt vom Wind, und bedeckt die Klostermauern wie Gips. Der Schnee ist sehr wichtig. Er ist nicht so gekommen wie in den letzten Jahren. Für gewöhnlich kommt er, wie das Meer steigt, mit Ebbe und Flut. Er fällt, er schmilzt, er kommt wieder, schmilzt etwas weniger, bedeckt die Landschaft mit immer neuen Schichten. In diesem Jahr war er auf einen Schlag da. Gestern konnte ich spazieren gehen. Es ist immer ein wichtiger Tag, wenn man das erste Mal in den Schnee hinausgehen kann.
    Ich hoffe, es geht euch gut, und die Kälte macht sich bei euch nicht allzu sehr bemerkbar.
     
    Ich bete für euch alle,
Michel
    Théo faltete den Brief wieder zusammen, steckte ihn in seinen Umschlag und legte ihn dann zurück. Er nahm einen anderen. Die Katzen hinter uns und um uns herum waren
eingeschlummert. Ich hörte das regelmäßige Ticken der Uhr.
    Ich las einen anderen Brief. Auf manchen Blättern standen nur ein paar Worte.
    Ich bin heute sehr früh hinausgegangen. Nur die Tiere waren vor mir auf diesem Weg gelaufen. Es sind viele, die dort vorbeigekommen sind, ihre Spuren mischen sich. Ich erkenne Wildschweine, Rehe oder Hirsche, Hasen, Hunde (die Abdrücke sind riesig, ein Wolf?).
    Ich las andere Briefe. Sie sprachen alle vom Kloster inmitten der Berge. Sie sprachen nicht von Gebeten, sondern von der allumfassenden Natur. In einem der ersten Briefe schrieb Michel:
    In diesem Kloster, das nur eine Zwischenstation sein sollte, bin ich angekommen, bin ich zu Hause. Ich bleibe hier, wie bezaubert. Welch Glück, durch die Berge zu gehen. Manchmal prallt der Wind dagegen. Und die Sterne, nachts. Abends erzähle ich mir in meinem kleinen Heft alles, was mich erfüllt hat. Alles ist so gegenwärtig. Ich finde keine Worte, um es auszudrücken. Vielleicht

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