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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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klein, der Kasten.«
    »Dann halt der Kopf einer Leiche.«
    Raphaël nickte und schaute mit halb offenem Mund zum Himmel.
    »Ja, vielleicht … Oder Leichenteile … Vielleicht auch ein Cello!«
    Max beschloss nachzusehen.
    Er kam mit dem Kasten zurück.
    »War gar nichts drin. Die große Leere der Dinge der Abwesenheit«, sagte er.
    »Und was willst du damit machen?«
    »Ihn in die Sonne stellen, um die ganze Verdunstung des Wassers zu begünstigen und das Fressen drinnen wiederzufinden.«
    »Das Futter, Max.«
    Er öffnete den Kasten vor dem Haus in der Sonne.
    »Das wird eine Werkzeugkiste für die großen Bootsutensilien.«

W ir erwarteten den Zug der Samtenten, Schwärme von mehreren hundert Vögeln, die in La Hague rasten würden, ehe sie weiter nach Süden flogen.
    Ich hielt auf dem Weg zwischen Écalgrain und La Roche nach ihnen Ausschau, doch die Vögel zogen nicht vorbei. Stattdessen fand ich einen toten Kormoran. Als ich wieder zurück war, rief ich im Ornithologischen Zentrum an. Von der Zelle am Hafen. Ich schickte alle Tabellen mit der Post ab. Jemand aus Caen würde den Vogelkadaver abholen.
    Der Abend brach herein. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Ich verbrachte zu viel Zeit in der Heide. Manchmal war es erdrückend. Ich begann mich nach Cafés, nach Kinos, nach der Sonne zu sehnen.
    Der Tierarzt war auf Théos Hof. Er war wegen einer Katze gekommen, die Tränen wie Klebstoff weinte. Das arme Tier stieß überall an. Sie fingen es ein, und der Tierarzt reinigte seine Augen mit einem Tuch und einer gelben Flüssigkeit. Er ließ ein Fläschchen da.
    »Zweimal am Tag«, sagte er, »sonst wird sie blind und krepiert.«
    Monsieur Anselme fuhr mit dem Auto vor, er hielt neben mir an und kurbelte die Scheibe runter. Er hatte keine Zeit zum Schwatzen, er musste nach Hause, um seine Schildkröte zu füttern.

    Seine Schildkröte hieß Chelone. Er hatte ihr den Namen eines jungen Mädchens gegeben, das von Jupiter bestraft worden war. Monsieur Anselme hatte schon oft versprochen, mir diese Geschichte zu erzählen.
    Ich stützte mich aufs Auto.
    »Sie wollten mir die Geschichte von Chelone erzählen«, sagte ich lächelnd.
    »Jetzt?«
    Er sah auf die Uhr.
    Seine Schildkröte war daran gewöhnt, jeden Abend genau um siebzehn Uhr ihr Futter zu bekommen. Wenn er nicht rechtzeitig zu Hause war, drehte sich das Tier mit dem Kopf zur Wand und rührte sich bis zum nächsten Morgen nicht mehr.
    Es war kurz vor siebzehn Uhr, trotzdem stellte er den Motor ab, stieg aus und hakte sich bei mir unter. Wir gingen ein paar Schritte. Er trug einen cremefarbenen Anzug und eine karierte Krawatte. Die Jugendlichen, die auf dem Parkplatz herumlungerten, stießen sich mit dem Ellbogen an, als er vorbeikam. Sie machten sich über ihn lustig.
    »Haben Sie gewusst, dass Jupiter seine Schwester Juno geheiratet hat?«
    Ich wusste es nicht.
    Er sprach weiter.
    »Damals waren Ehen zwischen Bruder und Schwester ganz normal, sie gehörten geradezu zum guten Ton … Um also diese Verbindung zu feiern, hatte Jupiter die ganze Welt eingeladen, die Götter, die Menschen, die Tiere, alles, was auf der Erde lebte, war anwesend. Nur eine einzige Person hatte es gewagt, seine Einladung abzulehnen, eine junge Frau, die auf den schönen Namen Chelone hörte. Als Jupiter dies erfuhr, war er außer sich vor Zorn, und wissen Sie, was er gemacht hat, um die Unverschämte zu bestrafen?«

    Ich schüttelte den Kopf.
    »Er verwandelte sie in eine Schildkröte.«
    Wir blieben vor Lamberts Haus stehen. Rauch stieg aus dem Schornstein. Ausgerissenes Gestrüpp lag auf einem großen Haufen an der Hauswand. Am Zaun hing ein Schild: Zu verkaufen . Dazu in rot die Telefonnummer des Notars in Beaumont. Ich wusste nicht, ob Lambert da war. Ich wollte nicht, dass er uns sah. Also zog ich Monsieur Anselme am Arm, zwang ihn umzukehren. Als wir zu seinem Auto zurückkamen, ließen die Jugendlichen ihre Mopeds knattern.
    »Ihr Anzug«, sagte ich, »deswegen machen sie sich über Sie lustig.«
    »Sie machen sich nicht lustig.«
    »Sie machen sich lustig, Monsieur Anselme …«
    Er sah mich erstaunt an.
    »Was ist denn mit meinem Anzug?«
    Ich zuckte die Schultern.
    »Nichts … Aber es ist ein Anzug.«
    »Na und?«
    »Sie sind hier in La Hague.«
    Er öffnete die Autotür. Nicht das Lachen der Jugendlichen hatte ihn verletzt, sondern ich, die Tatsache, dass ich mich auf ihre Seite geschlagen hatte.
    Ehe er die Tür schloss, sah er mich mit ernster Miene

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