Die Brandungswelle
aber es regnete zu stark, um nach Cherbourg zu fahren.
Ich öffnete eine Flasche Entre-deux-mers. Ein Wein aus dem Süden, weiß, trocken. Ich trank ein Glas, lauschte dem Regen. Ich hörte von unten die Stimme der Callas, Raphaël arbeitete. Er sagte, dass er immer sehr gut arbeitete, wenn es regnete.
Im Regal standen noch mehr Gläser. Leere Kekspackungen. Früher war ich einmal sehr ordentlich gewesen. Ich machte morgens das Bett. Ich legte Wimperntusche auf.
Es gab eine Zeit, ja …
Am nächsten Tag regnete es immer noch. Ich aß im Gasthof, mir gegenüber saß eine Familie, ein Paar mit Kindern. An einem anderen Tisch waren sie zu zweit. Ihre Hände berührten sich über dem Tischtuch, ihre Füße darunter. Ihr Bedürfnis nach der Haut des anderen. Nach dem Blick des anderen. Ich beneidete sie. Dann sagte das Mädchen etwas zu ihrem Freund, sie drehten sich um und lächelten mir zu. Ich war wie sie gewesen, mit dir, voller Begehren. Bis zum Ende, sogar als dein Körper ein Schatten geworden war, begehrte ich dich noch.
An den Tischen ganz hinten saßen die Junggesellen der Cogema. Sie arbeiteten in der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage ganz in der Nähe. Vom Dorf aussah man die großen Schornsteine, das kauernde Monster.
Zwei Zeichnungen von Raphaël hingen an der Wand. Gestalten in Grau und Schwarz. In einer kleinen Nische über dem Tresen stand auch eine Gipsskulptur von ihm. Morgane hatte keinen Dienst, der Wirt brachte mir das Essen.
»Es ist immer noch nicht verheilt!«, sagte er und zeigte auf meine Wange.
»Immer noch nicht?«
Er nickte.
Am Nachmittag ging ich zur Steilküste und zählte in kürzester Zeit siebzehn Silberreiher. Ich sah weder Falken noch große Raben, aber zwei sehr junge Silbermöwen, die um ein Weibchen kämpften.
T héo lehnte an der Theke. Donnerstags kam er immer früher, weil ein Mädchen vom Sozialdienst bei ihm saubermachte.
Lili setzte Kaffee für ihn auf. Wenn sie so mit dem Rücken zu ihm stand, sah Théo sie an. Nur dann. Auch sie sah ihn an, das Bild ihres Vaters im Spiegel. Ihre Augen trafen sich nicht.
Théo setzte sich nie hin. Er hätte mit den anderen Alten Karten spielen können, etwas plaudern. Oder er hätte mit dem Bus nach Beaumont fahren können. Aber er lehnte immer an der Theke.
Er trank seinen Kaffee.
Ehe er hinausging, blieb er an meinem Tisch stehen, sah sich meine Notizen an.
»Interessieren Sie sich für Regenpfeifer?«, fragte er.
»Regenpfeifer? Ich weiß nicht … In meinem Sektor gibt es keine. Warum fragen Sie?«
Er wandte sich ab. Seine linke Hand zitterte leicht.
»Der Regenpfeifer ist ein sehr schöner Vogel. Ein Stelzvogel.«
»Ich weiß.«
»Und wissen Sie auch, was er macht, wenn ein anderer Vogel kommt und seine Eier bedroht?«
Er kniff die Augen zusammen, ich hatte das Gefühl, er würde
mich danach beurteilen, ob ich wusste, wie sich der Regenpfeifer bei einem Angriff verhielt.
»Es gibt eine kleine Kolonie auf den Felsen hinter dem Semaphor. Sie sollten mal hingehen …«
Er zog die Tür auf.
»Auch wenn es nicht Ihr Sektor ist«, ergänzte er noch, ehe er ging.
Einer der Alten pfiff.
»Théo ist in Form heut Morgen!«
Lili kam mit einer Flasche in der Hand zu meinem Tisch. Sie goss mir einen Schluck Likör in ein Stielglas.
»Geht aufs Haus …«
Sie sah mir beim Trinken zu.
»Einer von hier!«
Ich wusste nicht, wovon sie sprach, ob von Théo oder von ihrem Likör. Ich leerte das Glas, ohne mit der Wimper zu zucken, und zog den Vorhang zurück, aber Théo war verschwunden.
M organe war nach Cherbourg gefahren und hatte die Ratte in ihrer Kiste gelassen. Die Ratte war herausgeklettert und verschwunden. Raphaël und ich suchten sie überall. Schließlich fanden wir sie auf einem Regal in der Ecke des Ateliers. Sie stand auf den Hinterpfoten und sah uns an. Ich streckte ihr die Hand entgegen, und sie schnupperte an meinen Fingern. Sie schien verwirrt. Vielleicht nahm sie den Geruch der Katzen wahr, die ich bei Théo gestreichelt hatte.
»Diese Biester übertragen alle möglichen Krankheiten«, sagte Raphaël, als er sah, wie ich die Ratte nahm.
»Wir auch.«
»Fass mich nicht an.«
»Ich fasse dich nie an.«
Er suchte seine Zigaretten. Schließlich fand er die Schachtel. Leer. Er ging in die Küche.
Die Totennäherin breitete ihren grauen Schatten auf dem Fußboden aus. Den Schatten des Leichentuchs, das sie gerade nähte. Raphaël hatte für diese Skulptur Nan als Modell genommen, ihren
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