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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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überlegte, die Vor-und Nachteile studierte. Alles gefiel ihr, aber sie fragte sich, ob sie es wirklich brauchte. Und dann zögerte sie mit den Farben. Sie radierte auch viel …
    Schließlich entschied sie sich für das Billigste, aber das Billigste war nicht das, was ihr am besten gefiel. Also radierte sie wieder. Am Ende blickte sie selbst nicht mehr durch auf ihrem Bestellschein.
    Sie blätterte weiter.
    Ich hätte ihr Fragen über Lambert stellen können, aber ich glaube, sie hätte mir nicht geantwortet.
    Schließlich ging ich. Auf der Straße traf ich auf das Paar, es fotografierte das Meer.
     
    Am nächsten Tag ging ich die Regenpfeifer suchen, von denen mir Théo erzählt hatte. Ich lief am Kreuz der Vendémiaire vorbei
und über die Mole – eine lange Mauer aus Tausenden kleinen Steinen – zum Semaphor. Auf einer Seite das Meer, auf der anderen nasse Wiesen, Salzwassersümpfe, auf denen ein paar Kühe weideten.
    Dort oben zu laufen war nicht einfach, meine Schuhsohlen rutschten, meine Knöchel knickten um. Es war ein ständiges Balancieren, ein anstrengendes Schwanken. Der Weg war lang. Unter meinen Schritten rieben die Steine, stießen aneinander. Ich hätte auch die Asphaltstraße nehmen können, aber um nichts auf der Welt wollte ich mich von dem Ufer entfernen.
    Am Ende der Mole kam ich wieder auf den Pfad. Stille. Hier gab es keine Steilküste, es war flach. Die Regenpfeifer nisteten in den Felsen etwas weiter, eine Kolonie von etwa zehn Vögeln. Die Flut stieg. Meine Uhr war stehengeblieben. Ich wusste nicht, wie spät es war, ich kannte nur die Zeit des Meeres. Ich setzte mich an den Strand.
    Kein Regenpfeifer wurde angegriffen, es war ruhig.
    Ich blieb etwas länger als eine Stunde, dann lief ich zurück.
    Am Abend hörte ich das Nebelhorn, den tiefen Ton, der in regelmäßigen Abständen über das Meer hallte, ein dumpfes Grollen, wie eine Geisteruhr. Oder ein Herzschlag. Das Geräusch entfernte sich, es wurde leiser, ohne ganz verschluckt zu werden.
    Der Hahn am Waschbecken tropfte. Das Geräusch des Wassers mischte sich mit dem Ton des Nebelhorns. Auch wenn ich den Hahn fest zudrehte, tropfte es weiter. Ich legte einen Lappen ins Becken.
    Ich rollte mich auf dem Bett zusammen. Es war Sonntag. Ein ungerader Tag. Der 31. Ungerade bei der 3 und bei der 1, und der nächste Tag war der Erste. Zwei Ungerade, die aufeinander folgen, jeden zweiten Monat.
    Seit meiner Kindheit mochte ich keine Sonntage. Auch keine
Feiertage. Weihnachten war ich immer krank, ein seltsames Fieber, kein Arzt hat es je erklären können.
    Am Morgen erwartete mich Raphaël an seiner Tür.
    »Geht’s gut?«, fragte er.
    Sicher wegen meines Gesichts, der Ringe unter den Augen.
    »Es geht sehr gut«, sagte ich. »Warum?« Er fragte nicht nach.
     
    Man sagt hier, der Wind sei manchmal so stark, dass er den Schmetterlingen die Flügel fortreiße.

D ie Mutter kratzte mit dem Fingernagel auf dem Wachstuch. Das machte sie schon eine ganze Weile, seitdem Lili auf den Dachboden gegangen war, um die Wäsche aufzuhängen.
    »Der Alte, na, warum kommt er nicht? Ist doch seine Zeit …«
    Zehnmal wiederholte sie das. Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Sie hatte Recht, es war seine Zeit.
    »Er wird schon kommen«, sagte ich.
    Sie starrte weiter auf die Tür, rieb sich mit der Hand das Gesicht. Ihre Haut war trocken, es knisterte hässlich, wie Papier.
    »Nicht so reiben!«
    Wenn sie aufgeregt war, legte ihr Lili eine Bambikassette ein. Ich wusste nicht, wo die Kassette war.
    Also setzte ich mich zu ihr.
    »Er hat sicher jemanden getroffen, mit dem er plaudert.«
    »Er plaudert nicht!«
    »Mit mir plaudert er.«
    Ihre alten Augen begannen zu leuchten, sie war voller Fragen, voller Lust, dass ich ihr erzählte.
    »Ich bringe ihm immer den Proviantbeutel, den Lili vorbereitet.«
    Ich berichtete ihr vom Haus, von den Gerüchen, von dem
großen Baum, der im Hof seinen Schatten verbreitete. All die Kleinigkeiten, die mir einfielen, erzählte ich ihr. Die Vorhänge, der alte Ofen, die Messerkerben im Holztisch.
    Irgendwann wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Sie beugte sich vor.
    »Ich erinnere mich«, sagte sie.
    Ihre Augen glänzten.
    Sie packte meine Hand, drückte sie fest. Ihre Haut war eisig.
    »Wir hatten Kühe, wir nahmen Eimer, wir melkten sie. Der Alte war stark! Ich war glücklich.«
    Das sagte sie: Ich war glücklich.
    Ihre Stimme zitterte. Ich lehnte mich etwas zurück, löste meine Hand aus ihrer.
    »Lieben Sie

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