Die Brandungswelle
dass ich fertig war, legte sie den Handschuh hin.
Sie brachte mir ein Stück Erdbeertarte.
Die Mutter bekam ihre Löffelbiskuits.
»Warum gibst du ihr keine?«, fragte er.
»Erdbeeren? Davon bekommt sie Flecken, willst du, dass sie krepiert?«
»Man krepiert nicht von einem Ausschlag.«
»Man krepiert, woran man krepiert«, sagte Lili und sammelte die Teller ein.
Der Fernseher war an, ohne Ton, gerade lief eine Mittagsshow.
»In all den Jahren dachte ich, ich würde dich wiedersehen. Warum bist du nie zurückgekommen?«
»Ich bin zurückgekommen.«
»Ja, am Anfang … Und dann?«
»Dann konnte ich nicht.«
»Und jetzt kannst du auf einmal?«
»Ja.«
Er zögerte, ehe er fortfuhr.
»Als mein Vater gestorben ist, war er vierzig. Ich bin älter geworden als er. Auch deswegen bin ich wiedergekommen.«
»Weil du älter geworden bist als er?«
Er nickte.
Lili schnitt ihm ein Stück Tarte ab und schob es auf einen Teller.
»Ich erinnere mich an ihn, er war groß.«
»Er war nicht besonders groß.«
»Ich fand ihn groß.«
Lambert sah sie an.
»Erinnerst du dich, wie er das Igelnest hinter der Mauer gefunden hat? Er hat uns gerufen, und wir mussten ihm versprechen, nichts anzufassen. Wir haben es ihm in die Hand versprochen, im Garten. Weißt du noch, ob meine Mutter dabei war?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Die Igel sind gestorben. Mein Vater hat uns Crêpes gemacht, um uns zu trösten. Das war das letzte Jahr.«
Ihre Blicke trafen sich.
»Ich red nicht gern über die Vergangenheit«, sagte sie.
»Und mein Bruder, erinnerst du dich an ihn?«
Lili nahm ihr Glas.
»Nein, er war zu klein, man sah ihn nie.«
»Bei den Igeln, war er da dabei?«
»Keine Ahnung …«
Ihre Stimme hing sekundenlang im Raum.
»Wahrscheinlich, doch …«, fügte sie hinzu.
Sie strich sich mit der Hand übers Gesicht und sagte dann:
»Dein Bruder war noch klein, deine Mutter behielt ihn oft drinnen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das ist alles längst vorbei … Iss lieber!«
Er konnte nichts essen.
Er legte die Gabel auf den Teller, das Messer darüber und schob den Teller in die Mitte des Tisches.
»Dein Vater hatte in der Nacht im Leuchtturm Wache.«
Lili richtete sich auf.
»Bist du deshalb zurückgekommen? Um diese alte Geschichte wieder aufzurollen?«
Sie hatte laut gesprochen. Sie sah nach ihrer Mutter, aber die Alte starrte auf den Bildschirm und saugte an ihren Biskuits, sie achtete nicht auf sie.
»Wir waren fünfzehn, Lambert …«
»Na und?«
»Ich weiß, was du denkst! Die Polizei hat ermittelt, sie waren bei meinem Vater … Der Leuchtturm war in der Nacht nicht aus. Das steht schwarz auf weiß am Ende der Akte. Was willst du noch?«
»Manchmal passieren Ermittlungsfehler …«
»Nicht bei diesem Mal. Außerdem war mein Vater nicht allein
im Leuchtturm, der Mann, der mit ihm Dienst hatte, hat ausgesagt, dass in der Nacht nichts Außergewöhnliches passiert ist.«
»Er hatte keine Schicht. Als das Boot unterging, schlief er.«
Lili regte sich auf.
»Es ist vielleicht schwer zu verdauen, aber es war ein Unfall, ein Unfall auf See, das passiert öfter.«
Er stand auf.
»Wohin gehst du?«, fragte sie. »Was ist mit dem Kuchen? Dem Kaffee? Willst du keinen Kaffee?«
»Nein …«
Er schob seinen Stuhl zum Tisch.
»Bei einem Unfall geht das Licht am Leuchtturm nicht aus.«
Lili schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Es ist nicht ausgegangen!«
Bei dem Knall zuckte die Alte zusammen und fing an zu jammern.
Lili schimpfte.
»Sogar samstags findet sich immer jemand, der mir meinen Feierabend verdirbt.«
»Entschuldige …«
»Von wegen!«
Er nahm seine Jacke vom Haken.
»Ich gehe.«
»Sehr gut, geh!«
Er wandte sich von ihr ab.
Er kam an meinem Tisch vorbei. Seine Hand. Der Ärmel seiner Jacke.
Seine Finger streiften das Tischtuch.
»Sind sie gut?«, fragte er und zeigte auf die Erdbeeren.
Ich nickte.
»Umso besser.«
Weiter fragte er nichts. Er ging.
T héo zog vorsichtig die Tür zu und legte den Schlüssel hinter den Geranientopf. Er blieb stehen, die Hand auf dem Geländer.
Von der Mole sah ich ihn mit meinem Fernglas, als stünde ich neben ihm. Hatte er wirklich den Scheinwerfer ausgemacht? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Er kannte die Gefahren des Meeres, und er liebte die Schiffe.
Er lief über den Hof und schlug dann den Weg in Richtung La Roche ein. Er besuchte Nan. Seit einiger Zeit ging es ihr nicht gut, sie lief mit gesenktem Kopf herum, sprach
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