Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
Vom Netzwerk:
Schultern und verschloss mit finsterem Gesicht den Beutel.
    »Sag ihm, was du willst«, sagte sie und legte den Beutel auf den Tresen.
    »Ich mag deinen Vater gern …«, stieß ich in einem Atemzug hervor.
    Sie erstarrte.
    »Du magst ihn gern?«

    »Ja.«
    Ich sah, wie sie zusammenzuckte und mich anblickte, als wollte sie loslachen.
    »Du magst ihn gern …«, wiederholte sie. »Willst du ihn haben?«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Wenn du ihn willst, ich gebe ihn dir. Sagen wir, ab jetzt, ab jetzt gehört er dir!«
    Sie drückte mir den Beutel in die Hand, wie sie Lambert die Blumen an den Pullover gedrückt hatte. Die gleiche Bewegung. Die gleiche Heftigkeit.
    »Das wollte ich nicht sagen.«
    »Dann sag’s nicht. Sag nichts. Nimm den Beutel und bring ihn zu ihm.«
    Ich ging hinaus.
    Lambert war im Garten. Er hatte die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt und riss das Gestrüpp an der Hauswand aus. Die Fenster standen offen. Das Schild Zu verkaufen hing immer noch am Zaun.
    Ich lief den Weg hinunter nach La Roche, ein kräftiger Geruch nach Meer lag in der Luft. Gischt flog mir ins Gesicht. Meine Lippen waren abwechselnd nass und brennend heiß. Hier legt der Wind das Begehren bloß. La Hague ist eine Sache der Sinne.
    Ich blieb stehen.
    Konnte ich dich lieben, wenn ich dich nicht mehr berührte? Der Gedanke überfiel mich.
    Konnte ich dich noch lieben?
    Es hatte mich erwischt.
    Mit dir hatte ich den Abgrund berührt. Und jetzt … Der Schmerz ließ nach und hatte angefangen, seine Kehrseite zu offenbaren.

    Als ich bei Théo ankam, sah ich die Katzen im Hof. Wie viele hatte er? Wenn ich ihm die Frage stellte, antwortete er stets: »Zwanzig, dreißig, die einen kommen zur Welt, die anderen sterben …«
    Théo wusste nicht mehr, wie alt er war. Er sagte, er sei alt. Und im Dorf nannte man ihn den Alten . Er wusste, dass man den Kindern beibrachte, sich vor ihm zu hüten. Vor ihm Angst zu haben. Wenn er durchs Dorf lief, flogen Steinchen gegen seinen Rücken. Früher hatte er sich umgedreht, seinen Stock geschwenkt. Inzwischen war es ihm gleichgültig, er sagte, die Steinchen würden ihn nicht mehr berühren.
    Ich klopfte ans Fenster und versuchte hineinzusehen, aber es war zu dunkel. Die graue Katze lag ausgestreckt auf dem Fensterbrett. Aus ihrem geschlossenen Mund ragte ein Zahn, der etwas länger war als die anderen.
    Auf dem Tisch schliefen zwei weitere Katzen. Eine Schüssel. Brot.
    Ich klopfte noch einmal.
    »Sind Sie da?«
    Schließlich ging ich hinein.
    Théo schlief in seinem Sessel, die Mütze über den Kopf gezogen. Die Hand lag noch auf dem knotigen Holz seines Stocks, als hätte ihn der Schlaf dort überrascht, vor dem eingeschalteten Fernseher.
    Das weiße Kätzchen schmiegte sich an ihn. Die Pfoten ordentlich übereinandergelegt, schlief es ganz entspannt.
    Wie er so dasaß, erinnerte das Zimmer im Halbdunkel an ein Gemälde von Rembrandt – Der Philosoph . Lange hatte an der Wand meines Studentenzimmers eine Reproduktion dieses Bildes gehangen.
    Ich legte den Proviantbeutel auf den Tisch. Hinter mir befand sich ein steinernes Spülbecken, die Kacheln waren vom
Kalkstein geschwärzt. Ein Topfdeckel stand in einem Plastik-Geschirrtrockner und ein Teller im Becken.
    »Ich habe Brot mitgebracht«, sagte ich.
    Théo öffnete die Augen. Er brummte. Ich zeigte ihm das Essen und die Medikamente.
    Er warf einen Blick darauf. Seine kleinen Augen hinter den Brillengläsern waren die gleichen Augen wie die von Lili.
    »Der Arzt kommt am Montag.«
    Er zuckte die Schultern und richtete sich auf.
    »Was können die Ärzte schon gegen das Alter ausrichten?«
    In La Hague gleichen sich die Alten und die Bäume, sie sind ebenso knorrig und schweigsam. Vom Wind geformt. Manchmal kann man bei einer Gestalt in der Ferne nicht sagen, ob es ein Mensch ist oder etwas anderes.
    Er streichelte den Kopf der kleinen Katze. Er sagte, sie sei empfindlicher als die anderen, man müsse sie mehr lieben.
    Hatte er Nan aus demselben Grund geliebt? Weil er spürte, dass sie empfindlicher war?
    Er sah mich an, als würde er meine Gedanken erraten, und legte seine Brille auf den Tisch. Die Gläser waren schmutzig, hatten Fingerabdrücke, im Licht sahen sie fettig aus.
    »Ich habe zwölf Regenpfeiferpaare gezählt, dort, wo Sie mir gesagt hatten.«
    Er hob den Kopf.
    »Zählen genügt nicht.«
    Mein Blick glitt über den Tisch, über all das, was ihn bedeckte, Teller, Zeitungen, Medikamente …
    »Der Regenpfeifer

Weitere Kostenlose Bücher