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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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grau. Als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, dachte ich, sie wären blau.
    »Man spricht über Sie im Hafen.«
    »Der Hafen ist nicht gerade groß.«
    Ein Tropfen Wein glitt an seinem Glas hinunter und hinterließ einen Fleck auf dem Tischtuch.
    »Abends esse ich immer dort, an dem kleinen Tisch neben den Hummern.«
    Er drehte sich um und sah den Tisch an.
    »Könnte ich mal mit Ihnen Vögel zählen gehen?«
    »Warum? Bleiben Sie noch länger hier?«
    Er sagte, er würde bald wegfahren, aber zwischen »bald« und »jetzt« sei noch etwas Raum. Und er würde diesen Raum gern nutzen, um die Vögel zu sehen.
    Die Steilküste, das waren meine Wege der Einsamkeit. Ich konnte nicht mehr zu zweit gehen.
    Auf dem Fensterbrett lag ein vergessener Korken. Lambert nahm ihn in die Hand und ließ ihn im Licht kreisen.
    »Wissen Sie, was ich hier mal gesehen habe? … Kinder hatten einen Fisch gefangen und haben ihm Korken wie diesen in den Rücken gesteckt. Dann haben sie ihn ins Wasser gesetzt. Der Fisch konnte nicht mehr tauchen. Das fanden sie lustig.«
    Er war wütend, auch noch nach so langer Zeit, als wären die
Kinder da, hinter dem Fenster, und machten ihre Dummheiten zwischen den Felsen.
    »Man müsste zwischen den Erinnerungen auswählen können, finden Sie nicht? Auswählen und nur das Beste aufheben …«
    Er legte den Korken hin.
    Ich sah ihn an.
    »Sind Sie deshalb hier? Um das Beste wiederzufinden?«
    Er lächelte.
    Er füllte die Gläser.
    »Vielleicht, ja.«
    Ich trank gern diesen Wein mit ihm. Wir sprachen noch über seine Ferien hier und auch vom Süden.
    Irgendwann drehten wir den Kopf, weil Nan plötzlich draußen vor dem Fenster stand und uns ansah. Ihr Haar hatte sie zu einem langen, dicken Zopf geflochten. Sie blieb eine Minute dort stehen, vielleicht auch zwei. Sie starrte Lambert an – sehr lange.
    Dann verschwand sie.
    Er schälte weiter seine Krabben. Einige hatten Eier, rosa Päckchen, die unter dem Bauch klebten.
    »Ich hatte einen kleinen Bruder … Aber das wissen Sie bestimmt, nicht wahr? Sie haben doch sein Foto gesehen? Das Medaillon auf dem Friedhof … Er hieß Paul.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Dieses gottverdammte Meer hat ihn behalten.«
    Er steckte eine Krabbe in den Mund.
    »Einen Tag vor dem Unglück waren wir nach Cherbourg gefahren, meine Mutter hatte uns Regensachen gekauft. Ich weiß noch, dass sie für Paul auch ein Poloshirt mit Booten drauf besorgt hat. Mit Segelbooten. Als wir nach Hause kamen, wollte mein Vater uns mit unseren neuen Sachen fotografieren, er hat
Paul vor das Fenster gestellt. Am nächsten Tag sind sie mit dem Segelboot nach Aurigny gefahren. Ich bin hiergeblieben. Ich war fünfzehn, ich brauchte Freiraum … Als ich den Film entwickeln ließ, waren sie alle tot.«
    Er sah mich an.
    »Sie essen ja gar nichts …«
    Ich pickte mir eine Krabbe raus, löste den Kopf vom Schwanz. Der rosa Panzer ringsum, wie eine dickere Haut.
    Er trank einen Schluck Wein.
    »Es war das erste Mal, dass sie mich ganz allein gelassen haben. Ich habe mich lange gefragt, ob ich Glück hatte oder nicht … Letztendlich glaube ich, dass es Glück war.«
    Er schaute von seiner Krabbe auf.
    »Angeblich wirft man sie lebendig in kochendes Wasser …«
    Seine Stimme war wie La Hague, sie hatte die gleiche Kraft, auch die Gleichgültigkeit. Ich sagte es ihm:
    »Ihre Stimme ist wie La Hague«, und er nickte, als würde er es verstehen.
    Wir aßen eine Weile weiter, ohne miteinander zu sprechen.
    »Und, was erzählt man sich über mich im Hafen?«
    »Dass Ihre Eltern im Meer umgekommen sind … Zwischen hier und Aurigny.«
    »Näher an Aurigny. Erzählt man sich noch was?«
    »Man beobachtet, wie Sie hier rumlaufen …«
    Er erhob das Glas, als wollte er alle grüßen, die über ihn sprechen.
    Draußen war es schön. Der Wind hatte es geschafft, die Wolkendecke aufzureißen, er trocknete schon die Straße.
    »Es war nicht Lili, die Ihre Blumen genommen hat.«
    »Das ist mir egal.«
    Ich drehte mein Glas zwischen den Händen. Ich dachte an das Gespräch, das er mit Lili geführt hatte, an diesen spannungsvollen
Moment, als er andeutete, Théo sei für den Untergang des Bootes verantwortlich.
    »Neulich, bei Lili, Ihr Streit …«
    »Wir haben uns nicht gestritten.«
    Ich trank einen Schluck Wein. Ich behielt das Glas in der Hand, die kalte Fläche an meinen Lippen.
    »War Théo in jener Nacht im Leuchtturm?«
    »Ja.«
    »Sie haben gesagt, er hätte den Scheinwerfer ausgestellt …

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