Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
Vom Netzwerk:
mit sich selbst. Man sah sie öfter als üblich am Strand auf- und abgehen, auch wenn kein Sturm war. Manchmal traf ich sie zwei-, dreimal am Tag. Ich grüßte sie, aber sie antwortete mir nicht. Sie ging schnell, geschäftig, als müsste sie jemanden treffen oder eine wichtige Aufgabe erfüllen. Sie landete immer am Meer. Mit dem Saum ihres Kleides im Wasser. Hatte Lamberts Anwesenheit sie so verwirrt, sein Gesicht, in dem sie einen der Ihren zu erkennen meinte? Ich hätte gern gewusst, wer dieser Michel war, auf dessen Anwesenheit sie so nachdrücklich bestand.
    Théo lief auf seinen Stock gestützt, mit gebeugtem Rücken. Ich sah ihm nach. Als er die ersten Häuser von La Roche erreichte, verlor ich ihn aus den Augen.

    Früher war ich Bettlern auf der Straße gefolgt, den Ärmsten. Ich wollte nicht wissen, wohin sie gingen. Ich wollte ihnen nur folgen. Ihren Schritten. Ihren Schatten. Sie hatten nichts. Sie froren. Ich fotografierte sie. Das tat ich über ein Jahr lang. Im Dezember schneite es. Ich schoss weiter Fotos, immer von hinten, ihre grauen Mäntel, die Schritte im Schnee.
    Ich fotografierte sie, wenn sie auf Pappkartons schliefen.
    Rücken, die ebenso viel erzählen wie Gesichter.
     
    In manchen Nächten hatte mich der bloße Kontakt des Lakens mit meiner Haut verbrannt. Ich musste aufstehen und mit nackten Füßen auf dem Boden stehen bleiben. Wenn das nicht half, öffnete ich das Fenster. Erst wenn meine Zähne klapperten und meine Lippen blau waren, konnte ich mich wieder hinlegen und schlafen.
    Geblümte Vorhänge hingen an einer Plastikstange an meinem Fenster. Als ich hier ankam, flatterten sie im Wind, weil eine Scheibe kaputt war. Auf dem Parkett war ein großer nasser Fleck gewesen. In den ersten Tagen hatte ich ein Stück Pappe an die Scheibe geklebt. Wenn sie nass geworden war, erneuerte ich sie. Schließlich kam jemand und wechselte die Scheibe aus.
    Der dunkle Fleck auf dem Holz blieb. Manchmal, wenn die Sonne etwas stärker schien, verschwand er. Aber er kam immer wieder.
     
    Das Morgenlicht schien aus dem Meer aufzusteigen. Durch das Fenster sah ich die Dächer des Dorfes auf dem Hügel. Rechts die gelben Lichter der wenigen Häuser von La Roche.
    War Théo noch bei Nan? Hatte er die Nacht bei ihr verbracht? Die Mutter erwartete ihn mit ihrer Greisinnenliebe, die ihr immer noch die Augen feucht werden ließ. Ihre Tasche auf dem Schoß. Ein Körper, der nicht vergaß; deshalb klammerte sie sich
an die Tasche. Was war zwischen Nan und Théo vorgefallen? Hatten sie sich geliebt? Und wie sehr?
     
    Ich setzte mich auf den Boden, die Knie angezogen, den Rücken an die Heizung gelehnt. Bald ein Jahr. Wie die Zeit verging. Sie hatte an dir genagt. Ich ertrug meine Haut nicht mehr. Meine Haut ohne deine Hände. Meinen Körper ohne dein Gewicht. Ich rollte meinen Pullover zu einer Kugel vor dem Bauch zusammen, den Rücken an den glühenden Rippen der Heizung. Ich spürte den Abdruck. Rippen wie Stangen. Die Stangen deines Betts, damit du nicht herausfielst.
    Ich fühlte das Mal auf meiner Wange, die rote Schwellung, die allmählich nachließ. Diese Leere in mir, die mich schwitzen und stöhnen ließ.
    Und ich schwitzte.
    Ich stöhnte und kratzte mit den Nägeln an der Wand. Ich leckte das Salz, um deiner Haut näher zu sein.
    An jenem Morgen wünschte ich mir, dass dich die Zeit noch weiter forttragen würde. Dich vernichten würde. Auch dein Gesicht. Ich stieß einen langen stummen Schrei aus, gemischt mit Tränen, die Zähne in den Arm gebohrt.
    Du hast mich schwören lassen, niemals zu sprechen. Niemals über dich zu schreiben, über dein Bett, diesen Ort … Den Geruch deiner Mauern, den Blick aus deinem Fenster.
    Der letzte Besuch, das Fehlen der Sonne. Weil dir das Licht zu sehr wehtat.
    Deshalb war der Vorhang kaum zurückgezogen, eine kleine Ecke grauer Himmel durch das Oberfenster.

L ili zeigte auf den Proviantbeutel.
    »Kannst du den bei ihm abgeben, wenn du vorbeigehst?«
    Sie sagte nicht »bei Théo«. Sie sagte nicht »bei meinem Vater«. Sie sagte »bei ihm«.
    Daraufhin schwieg sie. Sie legte ein Apothekentütchen in den Beutel. Es kam aus Beaumont. Ein Rezept lag dabei.
    »Sag ihm, dass der Arzt Montag am späten Vormittag vorbeikommt. Er soll sich waschen.«
    Sie sah mich hart an.
    »Was ist los?«
    »Nichts …«
    »Ich kenne dich. Dein Blick … Er bedeutet etwas!«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Das kann ich ihm nicht sagen … dass er sich waschen soll.«
    Sie zuckte die

Weitere Kostenlose Bücher