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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Handtuch.
    »Ist es nicht ein bisschen zu kurz geworden?«
    »Die Mode, Prinzessin, die Mode.«
    Ich strich mir über den Kopf.
    »Sind da nicht Löcher an den Seiten?«
    »Auch das ist Mode«, sagte Raphaël.
    Er lächelte.
    Die Kleine sah es sich an.
    »Was ist aus deinem Pudel geworden?«, fragte ich und stand auf.
    »Die Illegalen von Cherbourg haben ihn aufgegessen.«
    »Warum haben sie das gemacht?«
    »Sie hatten wahrscheinlich Hunger.«
    »Einen Hund essen ist widerlich.«
    Raphaël amüsierte sich. Die Bachstelze auch. Bis die kleine Douce anfing zu jaulen und im gestreckten Galopp über den Hof raste.
    Ich lachte mit ihnen. Danach blieb ich noch lange draußen auf der Bank sitzen, den Kopf in der Sonne.

A m Abend, im Hof, das Sternenlicht in den Wellen. Zitternde Lichter. Wie ertrunken.
    Der Nebel stieg vom Meer auf. Er hatte Seeleute in die Irre geführt, Schiffe versenkt. Kapitäne waren verrückt geworden, weil sie nichts mehr gesehen hatten.
    In der Ferne fuhr ein Frachtschiff in Richtung England. Das Nebelhorn ertönte in regelmäßigen Abständen wie eine Totenglocke. Ich sah nichts mehr von den Häusern von La Roche. Nichts mehr vom Strand. Sogar die Vögel waren verstummt. Nur die Lichter dieses Frachtschiffs in der Ferne und am Himmel ein paar Nachtvögel, die wie Schattenspielfiguren über La Hague hinwegflogen. Diese Vögel waren Zugvögel. Seit einigen Tagen kamen sie zu Dutzenden, und es kamen noch mehr, ihr Flug wurde durch den Nebel erschwert. Warum flogen sie so dicht am Haus vorbei? Die Vögel hielten nicht an, sie zogen weiter nach Süden, sicher in die Camargue, vielleicht auch nach Afrika. Sie flogen in meine frühere Heimat.
    Ein Vogel streifte mein Fenster. Er schüttelte sich einen Augenblick lang, betäubt von der Heftigkeit seiner eigenen Angst. Zog das Licht sie an, dieser nicht einmal sehr helle Punkt meiner Lampe? Vögel starben zu Hunderten an Lichtern. Wie große Insekten. Sie zerschellten.

    Ich knipste die Lampe aus und sah aus dem Fenster.
    Théo hatte gesagt, ich müsste dort mal eine Nacht verbringen, mich dort absetzen lassen.
    Dort. Auf dem Leuchtturm.
    Ich presste mein Gesicht ans Glas. Der Leuchtturm war von Finsternis umgeben, er trotzte den Wellen und der Nacht.
    Das Verhalten der Vögel ändert sich bei Nebel und bei Gewitter. Das Verhalten der Menschen auch.
    Hatte Théo in der Nacht des Unfalls den Scheinwerfer ausgemacht? Das Licht des Leuchtturms wird von einer Laterne erzeugt, die die Kraft eines Herzens hat. Ein schwerer, kraftvoller Pulsschlag. Auf diese Lampe, die wie eine Vielzahl von Halogenscheinwerfern zu einem einzigen Strahl gebündelt ist, heften die Seeleute unablässig den Blick.

D ie Kleine war ganz nach hinten in den Hühnerstall gekrochen, in die dunkle Ecke, wo die Hühner brüteten. Sie winkte mir zu. Ich öffnete das Tor und folgte ihr. Es roch nach Federn. Im Halbdunkel glitten meine Hände über Stroh, Kot und die Holzstreben der Hühnerleitern.
    Die Bachstelze wühlte in den Kästen und holte weiße Eier heraus.
    Sie legte sie in ihren Korb.
    Ich sah ihr zu. Bachstelze, ein seltsamer Name, niemand konnte sagen, wer ihn ihr gegeben hatte. Wer ihn ihr so endgültig angeheftet hatte, dass alle ihren wahren Namen vergessen hatten. Und dass es ihr seither unmöglich war, sich anders zu nennen.
    Lili sagte von ihr, sie sei ein Herzchen. Sie sagte auch, was die Kleine am besten könne, sei lächeln. Das und dicke Striche auf den Seiten ihres Heftes ziehen.
    Wir gingen nach draußen. Es war ein fast schmerzhafter Übergang von der Dunkelheit ins Licht.
    Lambert lehnte am Gartenzaun. Er rief die Kleine.
    »Ich kauf dir sechs ab!«
    Sie streckte ihm die Hand hin und tauschte die Eier gegen Münzen.
    Lambert sah mich an. Er zeigte mir die Eier.

    »Machen wir uns ein Omelette?«
    Ich mochte kein Omelette.
    Mir kam ein Lied von Mouloudji in den Sinn, ich sang es leise.
    Un jour, tu verras, on se rencontrera, quelque part n’importe où  …
    Ich hörte gern Mouloudji, früher, mit dir.
     
    Die alte Nan ging vor uns die Straße hinauf, auf demselben Bürgersteig. Es war nicht ihre Zeit, aber neuerdings sah man sie überall, die Stirn gesenkt, sprach sie mit sich selbst. Die Mutter lauerte hinter dem Vorhang auf sie, ihr gebeugter Schatten über der Gehhilfe. Als Nan die Terrasse erreichte, trat die Mutter vor die Tür. Sie sahen sich an, zwei Alte, zweifacher Hass. Sie sagten nichts. Die Mutter ließ ein langes Zischen hören, und Nan spuckte auf

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