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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Lili war gerade nichts los. Über dem Tresen brannte Licht. Ich lief auf das Haus zu. Als ich gerade die Hand auf die Klinke legen wollte, sah ich Lili und Lambert durchs Fenster. Sie saßen am Tisch und unterhielten sich. Ich sah sie von der Seite. Zwischen ihnen standen Gläser.

R aphaël kniete auf dem Boden, die Wange gegen den Gipsbauch gedrückt. Er sagte, er könne stundenlang über eine Bewegung von wenigen Sekunden nachdenken.
    »Jetzt mache ich erst mal Pause«, erklärte er und klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
    Er tauchte die Hände in eine Schüssel mit grauem Wasser. Das Wasser tropfte auf die Dielen. Mit seinen nassen Händen glättete er die Hüftflächen, die zarte Leistenbeuge drückte er mit dem Daumen ein. Dann richtete er sich auf, trat ein paar Schritte zurück und ließ mich den noch undeutlichen Körper einer Skulptur betrachten, deren ausgehöhlter Bauch die Gewalt einer Niederkunft ausdrückte. Der Mund war geschlossen. Stumm. Die Brüste gespannt. Sie hatte fast kein Gesicht. Der gequälte Leib drückte das Wesentliche aus. An einigen Stellen des Bauches war noch die Gitterarmatur zu erkennen.
    Er trat noch einen weiteren Schritt zurück.
    »Was hältst du davon?« Er nahm meine Hände und führte sie an den Bauch.
    »Spürst du? Es ist eine Flehende .«
    Das ganze Atelier glich einem riesigen Ruinenfeld, in dem Raphaël der einzige Überlebende war.

    Er ließ meine Hände los und zündete an der noch brennenden Kippe eine neue Zigarette an.
    »Seit zehn Jahren versuche ich, Begehren zu formen! Zehn Jahre habe ich es nicht hinbekommen, und heute, siehst du, ist es mir gelungen.«
    Ich lief um die Skulptur herum. Die langen mageren Beine endeten in einer Masse aus feuchtem Fleisch, das die ganze Energie auszustrahlen schien.
    Der Rest des Körpers, Kopf, Brust, Glieder, sogar die Brüste waren nur dazu da, die Kraft des Begehrens noch ein wenig zu steigern.
    »Morgane hat gesagt, du sitzt an deinen Zeichnungen …«
    Er wedelte mit der Hand, als würde er ein lästiges Insekt verjagen.
    »Später! Später!«
    Er setzte sich auf die Stufen, der Körper zermürbt von Müdigkeit. Der Nacken gesenkt.
    Ich füllte zwei Tassen mit warmem Kaffee, den er kurz zuvor gekocht hatte, und hielt ihm eine hin. Er hatte Gips im Gesicht. Seine Haare standen wild vom Kopf ab. Der Mund war verzogen. Er sah die Tasse an, und plötzlich erschien er mir schön, schön, weil er so nah am Wahnsinn war.
    Die Tasse war wie ein zusätzliches Gewicht, das er nicht mehr bewältigen konnte. Ich sah seine Hand, die Finger, die sie kaum hielten. Die Tasse fiel herunter, und der Kaffee floss heraus.
    Der dunkle Fleck wurde sogleich vom Staub aufgesogen.
    »Halb so schlimm«, sagte er.
    Ich hob die Tasse auf.
    Das Atelier war erfüllt von einer erdrückenden und stummen Aura, gehetzt vom blendenden Licht der Halogenscheinwerfer. Vor uns thronte seine letzte Skulptur. Als Schwester aller anderen
zeugte sie von derselben Obsession, Recht im Unrechten zu tun, Leidenschaft im Elend.
    Und Begehren in der Abwesenheit.
    Das war die Spur, die Raphaël zog.
    »Du ähnelst deinen Skulpturen.«
    Er hob den Kopf.
    In seinem Blick lag eine Mischung aus Zärtlichkeit und Schmerz, ein Ausdruck, der denjenigen eigen ist, die das Leben unendlich intensiver erleben als die anderen.
    Der Blick tat mir weh. Ich wandte den Kopf ab.
    Raphaël schloss die Augen.
    »Ich kann nichts dafür …«
    Ich fragte mich, ob er von seinen Skulpturen sprach oder von sich selbst.

R aphaël schlief eine Stunde, den Rücken an die Wand gelehnt. Dann machte er uns Beignets.
    Ein alter Tisch stand im Garten in der Sonne. Ich hatte Wein mitgebracht.
    Die Beignets waren lecker, voller Konfitüre. Wir bissen hinein, und sie explodierten in unseren Backen. Max gesellte sich zu uns. Er war glücklich. Er hatte von der Auktion in Cherbourg ein altes Fischernetz mitgebracht. Das Netz war im Garten ausgebreitet. Er musste nur ein paar Maschen reparieren, dann würde er das Netz hinten an sein Boot hängen können. Bis dahin verbrachte er Stunden damit, die Planken des Schiffsrumpfes mit einer dicken Masse abzudichten, die er mit einem Spatel verstrich und die wie Teer roch.
    Max erklärte uns, wenn das alles erledigt sei, müsse er nur noch den Frachtraum mit Wasser füllen, um »die Dichtigkeit des Bootes« zu überprüfen.
    Dann verstummte er und starrte auf die Zuckerspuren an Morganes Lippen.
    Die Sonne wärmte uns den Rücken. Auf dem Kai waren

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