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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Magen war die Hälfte des Fisches, den er gerade verschluckt hatte, noch ganz, während der Rest nur noch Brei war.
    Ich versuchte, es Raphaël zu erklären.
    »Wenn man keine Fragen mehr stellt, stirbt man.«
    »Das ist mir zu verkopft …«
    Morgane lachte, den Rücken in der Sonne.
    Max richtete sich auf.
    »Er war von extremer Kleinheit«, sagte er und nahm das letzte Beignet, das auf dem Teller lag.
    Er sah es an, dann Raphaël, und steckte es schließlich in die Tasche.
    »Ich habe immer so gesagt: ›Guten Tag, Däumling!‹ Dann ist er noch gewachsen, bis zu einer normalen Maßlosigkeit, aber ich habe weiter ›Guten Tag, Däumling‹ gesagt.«
    Er zog sein Netz in die Sonne.
    »Das ist der Fortgang des Namens, auch wenn sich die Dinge ändern, muss man ihn respektieren.«
    »Wo wohnte dein Däumling?«, fragte ich.
    Er zeigte mit dem Finger zu den Häusern von La Roche.
    Max setzte sich an den Tisch.
    »Wir hatten dieselbe Positionierung in der Schule, sein Ellbogen da und meiner direkt daneben.«
    Er zog mich am Ellbogen und ließ mich neben sich Platz nehmen, um mir zu zeigen, wie sie als Schüler nebeneinandergesessen hatten.
    »Wir teilten dieselbe Anschaulichkeit der Dinge und des großen Wissens.«
    Er lachte leise, hinter vorgehaltener Hand, die Finger gespreizt.
    »Däumling hatte mehr Fassungsvermögen«, sagte er und
schlug sich mit der Hand gegen den Schädel. »Er sagte, mein Fassungsvermögen ist weniger groß, aber genauso verdienstvoll.«
    Ich sah ihn an. Die Erinnerung schien ihn glücklich zu machen.
    »Däumling hatte Recht«, sagte ich. »Dein Fassungsvermögen ist sehr verdienstvoll.«
    Er wurde rot, verlegen.
    Ich fragte ihn, ob er wisse, wo er jetzt wohnte, und ob seine Eltern noch hier lebten, aber er wusste es nicht.
    »Kennst du seinen Nachnamen? Lepage, könnte das stimmen?«
    Er sah mich an.
    »Max weiß solche Sachen nicht.«
     
    Als er sich wieder in sein Netz vertiefte, trug ich die Gläser hinein, die noch auf dem Tisch standen.
    »Ich habe früher als Friseur gearbeitet«, sagte Raphaël und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.
    In sechs Monaten waren meine Haare wild gewachsen. Ich kämmte sie nicht mehr.
    »Warst du wirklich Friseur?«
    »Frag Morgane.«
    »Nicht nötig.«
    Er holte eine Kiste, in der alles war, was er brauchte – Scheren, Rasiermesser, Haarschneidemaschine.
    »Wenn du willst, dass ich sie dir schneide, musst du sie nass machen, oder ich schneide sie dir trocken.«
    »Ich mag keinen Trockenschnitt.«
    Ich ging in mein Zimmer und sah mir mein Gesicht im Spiegel an. Ich ließ Wasser laufen, wusch mich über dem Waschbecken, den Rücken gebeugt. Als ich mich wieder aufrichtete,
brannte mein Nacken. Ich wickelte ein Handtuch um den Hals und ging wieder hinunter. Raphaël erwartete mich.
    Auf dem Hof stank es nach Teer, von dem Zeug, das Max auf den Bootsrumpf strich. Der Topf stand mit ein paar Pinseln wenige Meter entfernt.
    Raphaël schimpfte.
    »Kannst du den Scheiß nicht woanders hinstellen?«
    Er ließ mich auf der Kiste Platz nehmen.
    »Hast du kein härteres?«, fragte er, als er das Handtuch anfasste.
    Mein Rücken berührte seinen Bauch, seine Hände meinen Nacken.
    »Relax«, sagte er.
    Er entwirrte meine Haare mit einem Kamm mit langen Zinken.
    »Womit hast du sie gewaschen?«
    »Ich hatte kein Shampoo mehr.«
    »Womit hast du sie gewaschen?«, wiederholte er und zog meinen Kopf nach hinten, um mich zum Antworten zu zwingen.
    »Mit Seife.«
    Er ließ mich los.
    »Schlecht gespült«, sagte er.
    »Ist nicht so einfach im Waschbecken.«
    Ich überließ ihm meinen Kopf. Die kalte Klinge auf meiner Haut, ich hörte das scharfe Klappern der Schere. Ich schloss die Augen. Die Strähnen fielen.
    »Aber nicht zu kurz.«
    »Mach dir keine Sorgen.«
    Er schnitt an den Seiten.
    Die Bachstelze kroch unter den Tisch zwischen meine Beine und sammelte meine Haare auf.
    »Früher hatte ich einen Pudel«, sagte Raphaël und zeigte auf
den Hund der Bachstelze, der uns mit seinen demütigen Augen ansah.
    Raphaël schnitt weiter, ohne mehr dazu zu sagen. Ich dachte an das, was Max erzählt hatte. Michel und er mussten gleich alt sein, vierzig, vielleicht etwas älter. War er es, der an Théo schrieb? Diese breite, ausgeprägte Schrift?
    Raphaël fuhr mit den Fingern durch mein Haar.
    »Ist es so gut?«
    »Hast du keinen Spiegel?«
    Ich fühlte mit der Hand. Es war nicht besser, aber auch nicht schlechter. Es gab keinen Fön, also rieb er die Haare mit dem

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