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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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ein paar Spaziergänger. Ich überlegte, ob vielleicht Sonntag war.
    Wir sprachen von Lambert. Morgane sagte, sie habe ihn bei Lili gesehen, als sie am frühen Nachmittag nach Beaumont gefahren
war. Sie war nur ins Café gegangen, um ein Brot zu kaufen. Er war da gewesen.
    »Kennt er Lili von früher?«, fragte sie.
    »Warum fragst du mich das?«
    Sie hielt ihr Beignet mit zwei Fingern. Etwas Konfitüre lief an der Seite hinunter.
    »Sie müssen sich gekannt haben, wo er doch die Ferien hier verbracht hat.«
    Dann rann die Konfitüre über ihren Finger.
    Raphaël sah uns an, während er auf seinem Stuhl schaukelte.
    »Dein Charakter … Morgane spricht mit dir, und du antwortest kaum. Bist du immer so?«, fragte er mich.
    »Das ist atavistisch«, sagte ich.
    »Ata was?«
    »Atavistisch … Ererbt. In meiner Familie waren alle schweigsam.«
    Morgane mochte es nicht, wenn wir uns stritten:
    »Hört auf, euch anzukeifen!«, sagte sie und gab ihrem Bruder einen knallenden Kuss auf die Wange. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich einen Moment an ihn.
    »Wenn du irgendwann genug von den Skulpturen hast, kannst du Konditor werden!«
    Dann sah sie zur Seite.
    »Wir haben Besuch!«
    Es war die kleine Bachstelze, sie stand vor dem Gartentor. Raphaël sah sie näher kommen, er zog ein Skizzenheft aus der Tasche und zeichnete die Umrisse der Kleinen mit ein paar raschen Strichen.
    An der Wand über ihm waren die lange geschlossenen Rosenknospen endlich aufgegangen. Es waren ungefähr zehn, die fest an den Zweigen hingen und dem Wind trotzten.
    Die Kleine kam zu uns.

    Als sie die Zeichnung sah, starrte sie Raphaël an, als wäre er ein Gott.
    »Irgendwann mache ich eine Skulptur von dir«, sagte er und schob das Skizzenheft ein.
    Die Kleine steckte die Hand in den Korb, nahm sich ein Beignet und ging weg, um es mit ihrem Hund zu teilen.
    »Kennt ihr jemanden, der Michel heißt?«, fragte ich.
    Morgane und Raphaël sahen sich an.
    »Michel wie?«
    »Lepage.«
    Raphaël schüttelte den Kopf. Er wandte sich an seine Schwester.
    »Sagt dir der Name etwas?«
    »Nein. Wer ist das?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Ich zögerte. Ich wusste nicht, ob ich Lust hatte, ihnen alles zu erzählen, von Théo, den Briefen. Also beschrieb ich ihnen nur die seltsame Begegnung, die am Morgen nach dem Sturm zwischen Nan und Lambert stattgefunden hatte. Ich erzählte ihnen auch von dem Foto mit dem Jungen, das bei Lili an der Wand hing.
    Raphaël nahm einen großen Schluck Bier. Er sah mich spöttisch an.
    »Mit irgendwas musst du dich ja verrückt machen …«
    »Ich mache mich nicht verrückt.«
    »Und was ist das sonst?«, fragte er und verdrehte die Augen.
    Dann sahen Morgane und er sich an, und sie mussten lachen.
    Max setzte sich neben sein Netz auf die Erde und fing an, die Maschen zu flicken. Um sie zusammenzunähen, benutzte er einen dicken Nylonfaden.
    »Däumling.«

    Das sagte er.
    Als ich es zum ersten Mal hörte, achtete ich nicht weiter darauf. Er sagte manchmal einfach irgendwelche Wörter mehrmals hintereinander, ohne genau zu wissen, warum er ein Wort wählte und nicht ein anderes. Wir fingen an, die Teller zusammenzustellen.
    Max war immer noch über sein Netz gebeugt, die Beine gespreizt, und wiederholte in ermüdender Regelmäßigkeit das Wort Däumling.
    »Kannst du nicht etwas anderes sagen?«, fragte ich ihn, als ich mit den Tellern in der Hand an ihm vorbeiging.
    Die Finger in den Maschen schaute er zu mir hoch. Er trug seinen dunklen Seemannspullover und ein Tuch um den Hals. Er lächelte mich an.
    »Michel ist Däumling!«
    Ich stellte die Teller ab.
    »Kennst du jemanden, der Michel heißt?«
    Er nickte und beugte sich wieder über sein Netz.
    »Wer ist das?«, fragte ich.
    Er zuckte die Schultern, ohne mich anzusehen. Er wusste es nicht.
    »Du sagst, dass du ihn kennst, aber du weißt nicht, wer es ist?«
    Er zuckte wieder die Schultern.
    »Weißt du, ob es der Michel ist, den Nan sucht, wenn sie am Strand ist?«
    Max antwortete nicht. Raphaël hörte uns zu.
    »Warum interessierst dich das?«, fragte er und drückte seine Bierdose zusammen.
    Fragen und Antworten, ein komplexes Gewebe aus Lüge und Wahrheit. Zu spät gesagte Dinge, nur halb gesagte und die, die nie gesagt werden. Das hatte ich bei den Kormoranen gelernt.
    Wenn ein Kormoran einen Fisch verschluckt, dann immer
mit dem Kopf zuerst. Der Magen verdaut in Etappen. Einmal hatte ich einen toten Kormoran gefunden und ihn aufgeschnitten. In seinem

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