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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Pastille in den Mund. Sie war hart. Seine Finger waren trocken. Draußen war es dunkel. In der Stille, die folgte, hörte ich eine Schiffssirene dröhnen.
    »Nicht zerbeißen«, sagte er und steckte die Dose wieder ein.
    »Was passiert, wenn ich sie zerbeiße?«
    »Nicht zerbeißen«, wiederholte er.
    Durch meinen Speichel wurde die Pastille weich. Sie schmeckte stark nach Pflanzensaft. Prévert hatte oft Hasch-Kügelchen zu sich genommen und danach eine Tasse Kaffee getrunken, sehr starken Kaffee. Dann hatte er einen Moment gewartet und noch einmal eine halbe Kugel geschluckt und mit einer halben Tasse Kaffee hinterhergespült. Das hatte mir Monsieur Anselme erzählt.
    »Deine Toten …«, sagte ich.
    »Welche Toten?«
    »Die da!«
    Ich zeigte auf seine Skulpturen.
    »Das sind keine Toten«, antwortete er.
    »Dieser Mann, der an den Holzpfahl genagelt ist, er macht mir Angst.«
    »Das ist ein Vergänglicher.«
    Er sammelte die Werkzeuge ein, die auf dem Boden herumlagen.

    »Wo ist Lambert?«
    »Keine Ahnung.«
    Er drehte sich zu mir um. »Er ist ein anständiger Kerl.«
    »Ich will nicht mehr vertrauen«, antwortete ich schließlich.
    »Wer spricht denn von Vertrauen?«
    »Sobald du liebst, vertraust du!«
    »Schwachsinn! Wenn du liebst, liebst du!«
    »Rilke hat gesagt, dass …«
    »Scheißegal, was Rilke gesagt hat!«
    Morgane kam herein.
    »Kein Fernsehen mehr!«, sagte sie.
    Sie sah uns an. Weil wir dicht beieinanderstanden.
    »Störe ich?«, fragte sie lächelnd.
    Sie trug einen gestreiften Pullover, den sie sich im Winter mit Plastiknadeln gestrickt hatte. Er war sehr groß. Sie trug ihn mit einer gelben Strumpfhose. Dann ließ sie sich in den Sessel fallen, zog die Beine unter den Po und beugte sich über ihre Strumpfhose, um den Sand abzukratzen, der an ihrem Knöchel klebte. Ihre roten Fingernägel bohrten sich in die Maschen.
    Sie sah mich an.
    »Du warst mit Lambert an der Steilküste … Ich habe euch gesehen. Hat er dir gesagt, was er hier macht?«
    »Er verkauft sein Haus.«
    Sie kratzte weiter Erde von den Maschen ab.
    »Das ist nicht nur ein Kerl, der sein Haus verkauft«, sagte sie und spuckte auf ihre Strumpfhose. »Da steckt noch was anderes dahinter.«
    Raphaël kam zum Tisch zurück. Er nahm das feuchte Tuch weg, das die kleine Lehmstatue bedeckte.
    »Rilke hat etwas Lustiges dazu gesagt …«
    »Wer ist denn Rilke?«, fragte sie.
    Raphaël grinste.

    Morgane wandte sich an mich.
    »Erklärst du’s mir?«
    »Das ist ein Dichter. Er hat sehr schöne Sachen über das Leben geschrieben und über die Lust, die Liebe …«
    »Was für schöne Sachen?«
    »Sachen … Er sagt zum Beispiel, dass es unmöglich ist, unter der Last eines anderen Lebens zu leben.«
    Morgane zog ihre Strumpfhose zurecht.
    »Na, das geht ja gut los!«
     
    Vor dem Einschlafen spielte ich mir unsere Nächte, alle unsere Nächte, in einer Endlosschleife vor.

A m Abend standen die Esel beieinander auf der Wiese neben dem kleinen Weg, der nach La Roche führt. In der Dämmerung wirkten sie wie Schatten. Das Pferd war bei ihnen, sehr nahe, aber auf derselben Wiese.
    Ein leichter Wind trug den Geruch nach Erde und Moos heran. Die Gassen des Dorfes lagen verlassen im Morgengrauen. Es war Ebbe. Ich hatte das Licht in meinem Zimmer angelassen.
    Im Halbdunkel sah ich das gelbe Fenster.
    Der Audi kam auf der Dorfstraße angefahren. Er bremste. Er fuhr an mir vorbei und hielt ein paar Meter weiter an.
    Das Fenster wurde heruntergekurbelt.
    »Steigen Sie ein?«
    Tautropfen glänzten auf dem Dach. Ich legte die Hand darauf, sie hinterließ einen Abdruck. Meine fünf Finger in der Feuchtigkeit.
    Ich stieg ein.
    Lambert starrte auf die Straße, Dämmerlicht hinter der Frontscheibe. Er sah mich nicht an.
    Er stank nach Alkohol.
    »Waren Sie bei mir zu Hause?«
    »Ja. Ich wollte die Zeichnungen sehen … Ich habe nichts angerührt.«

    Er stellte den Motor ab.
    »Die Zeichnungen …«
    Er grinste.
    »Wenn das so ist …«
    »Ich habe ein anderes Spielzeug bei Nan gefunden, mit dem gleichen Etikett wie dem, das auf der Trommel klebte … Ein kleiner Bär auf Rädern … Ich habe die Zeichnung gefunden.«
    Er grinste wieder.
    »Sie haben Ihren Spaß. Und was beweist das?«
    Er hatte Recht, das bewies gar nichts, nur dass Nan in seinem Haus gewesen war, um diese Spielsachen mitzunehmen, und dass Lilis Mutter doch nicht so verrückt war.
    Er lehnte sich an die Kopfstütze.
    »Wissen Sie, was ich gemacht habe, während Sie mit

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