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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Monsieur Anselme mochte sie nicht, er sagte, diese Frühlingscroissants seien sicher köstlich, aber sie hätten nicht den Geschmack, den man erwarte, wenn man ein Croissant verlange.
    Ich kaufte eine ganze Tüte voll. Ein plötzliches Bedürfnis nach Zucker. Ich wollte Morgane und Raphaël welche mitbringen. Ein Croissant aß ich sofort.
    Vor dem Tor der alten Nan standen eine Eisenschüssel mit hartem Brot und einige Schalen mit Karottenkraut. Futter für die Esel. Viele solcher Tröge standen hier und da im Dorf. Nan saß vor der Tür. Sie hatte ihr Haar gelöst und bürstete es in der Sonne.
    Ich zeigte ihr die Tüte mit den Croissants. Sie winkte mich herein.
    Die Bank, auf der sie saß, bestand aus einem Brett auf zwei Steinen.
    Sie sah die Tüte an.

    »Das sind Frühlingscroissants«, sagte ich und hielt sie ihr hin.
    Sie legte ihre Bürste weg und steckte die Hand in die Tüte. Während sie aß, starrte sie auf den Boden zwischen ihren Füßen. Als sie fertig war, sah sie mich an und sagte, dass das Croissant sehr gut war.
    Sie nahm noch eins.
    Ich warf einen Blick auf die Zuflucht . Alle Fenster waren geschlossen. Ich fand es jetzt weniger trostlos, weil die Sonne schien.
    »Théo hat mir ein Foto gezeigt, auf dem Sie zu sehen sind, neben dem Baum, mit Kindern …«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Sie waren jung … Ursula war auch darauf zu sehen.«
    Sie lächelte.
    Ich sah sie an, über das von Runzeln durchzogene Gesicht legte sich das andere, das unendlich glatte und sanfte, das ich auf dem Foto gesehen hatte.
    Die Frau, die Théo geliebt hatte.
    Ich hob den Kopf.
    Die kleine steinerne Jungfrau war immer noch da, in der Nische über der Tür.
    »Kann man hineingehen?«
    Nan holte ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich lange die Hände ab.
    »Da ist nichts mehr drin außer toten Ratten und Erinnerungen.«
    »Ich mag Erinnerungen. Théo hat mir erzählt, dass das Foto ganz am Anfang aufgenommen wurde, als die Zuflucht gerade eröffnet worden war.«
    »Früher waren das Scheunen. Ställe. Meine Eltern hatten dort ihr Vieh. Wir mussten alles saubermachen, die Wände, die Zimmer,
und wir mussten den Heuboden ausräumen, um daraus Schlafräume zu machen.«
    Sie schüttelte ihr Kleid, um die Krümel zu entfernen. Ein paar blieben in den Falten hängen.
    »Erinnern Sie sich an das erste Kind, das hierhergekommen ist?«
    Sie nickte.
    »Ich erinnere mich an alle Kinder … Das erste hat man mir gebracht, seine Mutter wollte es nicht mehr. Fünf Jahre war es alt gewesen. Ich hab noch nie ein Kind so weinen sehen. Der Junge ist sechs Monate bei uns geblieben, dann hat ihn eine Familie adoptiert, ein Paar aus Nantes. Sie haben ihn mit dem Auto abgeholt … Er hat mir jedes Jahr zu Weihnachten geschrieben, es schien ihm gut zu gehen, aber eirgendwann habe ich keinen Brief mehr bekommen, er hatte sich erhängt.«
    Sie holte noch ein Croissant aus der Tüte.
    »Warum wollen Sie da rein?«
    »Um zu sehen …«
    »Es gibt nichts zu sehen. Die Zuflucht ist seit zwanzig Jahren geschlossen. Nachts rennen da die Marder rum. Sicher stinkt es.«
    »Ich mag Gerüche.«
    Sie zog die Brauen hoch.
    »Solche Gerüche …«
    Sie sagte einen Moment lang nichts. Ich dachte, ich sollte gehen. Ich sah sie an. Ich wünschte mir zu erfahren, wer Michel war, aber ich traute mich nicht, sie nach ihm zu fragen. Plötzlich hob sie die Hand und streckte sie in Richtung Zuflucht aus.
    »Ganz hinten kommt man rein, durch das letzte Fenster vor der Scheune, Sie müssen nur den Fensterflügel aufdrücken.«
    Sie hielt mich am Arm fest.

    »Wenn da irgendwelche Viecher sind, dürfen Sie sich nicht beklagen.«
    »Ich beklage mich nicht.«
    Ich überquerte den Hof bis zu der Stelle, die sie mir gezeigt hatte. Der Fensterflügel war abgenutzt. Er ließ sich einfach aufdrücken. Ich kletterte durch die Öffnung und landete in einem leeren, dunklen Zimmer. Ich musste einen Moment warten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah ich, dass dieses Zimmer zu einem anderen führte.
    Im nächsten Raum standen Tische. Nan hatte Recht, es stank nach toten Ratten und vertrockneten Exkrementen. Ich ging zu den Tischen. Im Holz waren Messerkerben. An den Wänden Striche, immer fünf, mit Querstrich, wie im Gefängnis.
    Tote Fliegen lagen zu Hunderten unter dem Fenster.
    Ein bisschen Licht drang durch die Spalten in den Fensterläden. Am Ende des Gebäudes führte eine Steintreppe in die obere Etage. Die Stufen waren voller

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