Die Brandungswelle
Staub. Gipsplacken hatten sich von der Decke gelöst und bedeckten hier und da den Boden. Die Treppe mündete in einen dunklen Flur, von dem auf beiden Seiten Zimmer abgingen – der einstige Heuboden, von dem Nan gesprochen hatte. Ich machte eine Tür auf. Das Zimmer war mit mehreren Eisenbetten vollgestellt. Auf einem Bett lagen alte Decken aus brauner Wolle. Ich ging zum Fenster. Durch den Spalt sah ich den Hof, den Baum, die alte Nan auf ihrer Bank. Das Meer in der Ferne. Die Wiesen. Einst hatte es hier Leben gegeben, Kinder, es blieb die Stille.
Man sagt vom Wasser, es erinnere sich. Wie ist es mit den Wänden?
Ich lief zur Tür.
Vor dem Rausgehen drehte ich mich noch einmal um, mein Blick wurde von einem helleren Fleck angezogen. Es war ein Bett, auf dem ein Laken lag. Das Laken war nicht mehr weiß,
aber es war hell. Ich hatte es beim Hereinkommen nicht gesehen. Ein Spielzeug lag auf dem Boden. Ich bückte mich.
Es war ein kleiner Bär mit kurzem Fell auf vier Rädern, das Fell war so abgegriffen, dass hier und da nur noch der abgewetzte Stoff übrig war. Die Achse der Räder war verrostet. Ein Ohr war von Zähnen zerrissen, Kind oder Ratte? Etwas Rosshaar quoll aus dem Stofftierkörper heraus. Sonst befand sich nichts in dem Zimmer, nur die Betten und das Spielzeug. Wie viele Kinder hatten nacheinander in diesem Zimmer gewohnt? Sicherlich waren die Ankömmlinge immer neidisch auf diejenigen gewesen, die fortgingen. Was war aus ihnen allen geworden?
Ich legte das Spielzeug wieder aufs Bett. Ich wollte es nicht behalten, aber ich konnte es auch nicht loslassen. Also nahm ich es wieder an mich. Die Räder steckten in einem Holzbrett. Ich ging dicht ans Fenster. Die Farbe war fast überall abgeblättert. Unter dem Brett, zwischen den Rädern, klebte ein Etikett. Es war halb abgerissen, aber noch gut lesbar. Ich hielt das Spielzeug ins Licht. Es war das gleiche Etikett wie das auf der Trommel, Pain d’épice, Spielzeuggeschäft, Passage Jouffroy, Paris .
Ich ging bei Lambert vorbei. Ich wollte ihm von dem kleinen Bären erzählen. Ihm sagen, dass ich ihn nicht mitgenommen hatte, dass er aber noch dort in einem der oberen Zimmer war. Ich hatte es nicht fertiggebracht, selbst zur Diebin zu werden.
Ich durchquerte den Garten. Der Schlüssel steckte in der Tür. Ich wollte die Zeichnungen sehen. Alle Zeichnungen von den Regentagen, die ich so schnell überflogen hatte, an dem Tag, als wir die Omelettes gegessen hatten. Es gab eine, die ich unbedingt wiederfinden musste.
Drinnen war es dunkel. Ich machte Licht. Die Zeichnungen lagen alle in dem Karton, der Karton stand auf dem Tisch. Dort
standen auch eine Schale und ein paar Bücher. Ein Pullover hing über dem Stuhl. Lambert hatte Feuer gemacht. Es war noch Glut da. Ich warf eine zur Kugel zusammengeknüllte Zeitung und Holz auf die Glut. Ein Streichholz genügte.
Die Zeichnung, die ich suchte, versteckte sich irgendwo zwischen den anderen. Eine Bleistiftzeichnung, durch wenige Farben koloriert, die ich an jenem Tag kaum wahrgenommen hatte, aber doch genug, um mich daran zu erinnern. Es war die Zeichnung eines kleinen Bären auf vier Rädern mit rotem Lederzügel.
Ich suchte und fand sie schließlich.
Es war genau der kleine Bär, den ich in der Zuflucht gefunden hatte, er war auf ein Blatt aus grobem Papier gezeichnet. Mit sicherem Strich. Das war keine Kinderzeichnung, sie war sicher von Lamberts Mutter.
Neben der Zeichnung waren ein paar dicke Striche, zielloses Gekrakel.
Ich sah den Tisch an. Ich versuchte mir die Mutter und das Kind vorzustellen, die Köpfe dicht beieinander, dazu das Geräusch des Stiftes, des Radiergummis. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das Kind der Mutter zusah und seinerseits ungeschickt zu zeichnen versuchte, während vor ihnen auf dem Tisch der kleine mit Rosshaar gestopfte Bär thronte.
Ganz unten auf dem Blatt stand wie auf den meisten anderen Zeichnungen ein Datum: 28. August 67. Da waren sie noch zusammen gewesen, eine Mutter und ihr Sohn.
Sie hatten noch knapp zwei Monate zu leben gehabt und es nicht gewusst.
Noch Zeit für ein paar Zeichnungen, für ein paar Regentage. Ich sah mir die Zeichnung lange an. Diese Geschichte berührte meine, ließ ihre Saiten vibrieren. Schließlich legte ich sie wieder an ihren Platz zurück, so wie ich sie vorgefunden hatte. Ich sah
mich um. Der Aschenbecher auf dem Tisch quoll über. Daneben ein vergessenes Streichholz.
Lamberts Pullover lag über dem Stuhl. Ich drückte
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