Die Brandungswelle
Frau kommt vorbei, ich stehe auf und folge ihr. Folgen Sie mir immer noch?«
»Ja.«
»Gut. Ich bin also ein Mann, demzufolge folge ich einer Frau. Wenn ich einer Frau folge, folge ich demzufolge keinem Mann, denn es ist eine Frau, der ich folge.«
Ich musste lächeln, ich kannte die Geschichte auswendig, seit ich Monsieur Anselme kannte. Ich zündete das nächste Streichholz an.
Lambert wandte sich an mich.
»Ist das immer noch Prévert?«
»Immer noch!«
Ich sah ihn an.
»Sie waren Polizist, und jetzt sind Sie es nicht mehr?«
»Nein.«
»Warum?«
»Warum ich Bulle war, oder warum ich es nicht mehr bin?«
»Sowohl als auch.«
»Ich war dreißig Jahre lang im Dienst. Ich habe gelernt, schnell zu rennen und Geständnisse zu entlocken. Eines Morgens dann hatte ich die Nase voll davon … Dabei war ich ein guter Polizist.«
Er sah mich mit einem spöttischen Lächeln an.
»Es gefällt Ihnen nicht, dass ich Bulle war, was?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Sie haben es nicht gesagt, aber es gefällt Ihnen nicht«, sagte er und beugte sich vor.
Ich dachte an seine Hände, diesen Schraubstock um mein Gesicht.
»Der Einzige, den ich noch nicht zum Sprechen gebracht habe, ist der alte Théo … Aber ich habe nicht gesagt, dass ich aufgebe. Warum sehen Sie mich so an?«
»Erzwungene Geständnisse sind nicht immer wahre Geständnisse.«
Er nickte.
Monsieur Anselme erzählte von einer Autofahrt, die er mit Prévert unternommen hatte.
»Einmal haben wir in der Markthalle von Cherbourg Möhrenkraut geholt. Möhrenkraut für sein Meerschwein … Zu viert, Prévert, Trauner, mein Vater und ich. Es war im Winter. Es lag Schnee …«
»Ist Cherbourg nicht ein bisschen weit für irgendwelches Kraut?«, fragte Morgane und blickte von ihrem Kreuzworträtsel auf.
Monsieur Anselme lächelte.
Lambert wandte sich wieder an mich.
»Ich habe über Ihre Kormorangeschichte nachgedacht«, sagte er leise. »Dass es weniger sind als früher … Die Wiederaufarbeitungsanlage ist nicht sehr weit, könnte es damit zu tun haben?«
»Das könnte sein, obwohl es Maßnahmen gibt, die den Schadstoffausstoß begrenzen.«
»Wenn der Schadstoffausstoß abnimmt, müsste es doch wieder mehr Vögel geben.«
Ich trank meine Schokolade.
Monsieur Anselme warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war seine Zeit. Er stand auf und ließ drei Euro auf dem Tisch liegen. Drei Euro für den Kaffee, das war immer so. Teurer als in Paris!, pflegte Lili zu sagen.
Er zog den Mantel über das Jackett.
Morgane stellte sich an den Flipper, und plötzlich waren wir allein.
»Geht es Ihnen besser?«, fragte ich und spielte auf den Alkohol an, den er am Vortag getrunken hatte.
Er hatte violette Ringe unter seinen Augen.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Waren Sie bei ihm?«
»Ja.«
»Und?«
»Nichts und … Es geht ihm gut.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«
»Was soll er mir erzählt haben? Dasselbe wie Ihnen, weiter nichts.«
»Und haben Sie ihm geglaubt?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich sah ihn an. Er sah mich auch an. Ich dachte an den Mann, den Nan suchte. Ich weiß nicht, was mich an dieser Geschichte interessierte, aber ich verfolgte sie fast besessen. Warum hatte Lili das Foto weggenommen, als hätte sie Angst vor etwas?
»Dieses Kind, das mit dem Kalb … Sie haben gesagt, dass Théo es gerufen hatte, erinnern Sie sich nicht an seinen Namen?«
Er starrte mich fassungslos an.
»Das war vor vierzig Jahren!«
»Ja, natürlich … Aber da hing ein Foto, hinter Ihnen, da, wo jetzt die helle Stelle zu sehen ist.«
Er drehte sich um.
»Auf dem Foto waren Lili, ihre Eltern und ein kleiner Junge zu sehen. Er hieß Michel, es war ein Kind aus der Zuflucht . Ich glaube, dass Nan auf diesen Jungen wartet.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.«
»Könnte es vielleicht das Kind von Nan und Théo sein?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nan hat keine Kinder.«
Er hörte mir zu, ohne zu lachen. Ohne auch nur zu lächeln. Ich erzählte ihm von den Briefen.
» … mit einem Füller beschriebene Umschläge, es sind sehr viele … Sie sind alle von jemandem geschrieben, der Michel Lepage heißt.«
Er stützte den Kopf in die Hände.
»Was genau denken Sie?«
Ich sah ihm in die Augen.
»Ich denke, dass das Kind auf dem Foto und das, was Sie gesehen haben, dasselbe ist. Ich glaube auch, dass Théo weiß, wo der Mann ist, den Nan sucht. Sie schreiben sich seit mehr als zwanzig Jahren.«
D ie Katze, um die die beiden Kater gekämpft
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