Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
Vom Netzwerk:
Engelslächeln …
    Es war das Medaillon, das Lambert auf das Grab gelegt hatte. Es war verschwunden. Lambert hatte geglaubt, Max hätte es gestohlen.

    Was machte dieses Foto hier?
    Nan hatte noch immer beide Hände über dem Herz verschränkt, darin das Foto, das sie wiegte.
    Sie hatte schon Spielzeug gestohlen. Warum stahl sie ein Kinderfoto, wo sie so viele andere hatte?
    Sie ging zum Fenster.
    Ich sah ihren Rücken, den schweren Zopf. Ahnte ihre gefalteten Hände. Sie summte vor sich hin, als wäre sie allein.
    »Vergessen Sie nicht, bei Théo vorbeizugehen.«
    Sie antwortete nicht.
    Ich sah sie noch einmal an, ehe ich hinausging, dann steckte ich das kleine Medaillon in die Tasche und machte die Tür hinter mir zu.

D ie Esel hatten sich etwas weiter unten in einer Gasse neben dem Waschhaus versammelt. Sie fraßen, was Kinder für sie vor die Tür gelegt hatten.
    Es heißt hier, dass derjenige, der einen Esel fesselt, aus Einsamkeit stirbt.
    Ich lief den Pfad am Meer entlang. Die Glasscherben in der Hand, das Foto in der Tasche. Ich kannte diesen Pfad auswendig. Unter meinen Füßen der oft heimtückische Felsen, die rutschige, allzu fette Erde, der weiche Moosteppich. Ich hatte das Meer in den Augen. Dieses Strahlen des Lichts. Ich setzte mich auf einen Stein und holte das Foto aus der Tasche. Das Kind hatte die Augen weit geöffnet.
    Wollte Nan ihrer großen Sammlung vielleicht noch ein weiteres Gesicht hinzufügen, als sie das Foto stahl? Auf diese Weise ein weiteres Kind in ein Haus holen, das niemanden mehr aufnahm, als sollte die Geschichte der Zuflucht noch weitergehen? War es das?
    Ich hatte das Foto eingesteckt, ohne recht zu wissen, ob ich es Lambert geben oder ohne etwas zu sagen auf das Grab legen sollte.
    Ich lief auf dem Pfad bis zum Strand von Écalgrain. Eine Schlange war zwischen zwei Steinen krepiert. Eine lange Kolonne von Ameisen verwertete sie geduldig.

    Ein Seidenreiher verschwand vor mir im Meer und tauchte kurz darauf mit einem kleinen silberfarbenen Fisch im Schnabel wieder auf.
    Morgane war am Strand, mit einem Mann. Sie spazierten zusammen, eng aneinandergeschmiegt. Sie stolperten übereinander, so fest hielten sie sich.
    Morgane trug ihren rosa Wollpullover. Ich wusste nicht, wer der Mann war. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Sie küssten sich.
    Ich beobachtete sie durch das Fernglas. Ein Kuss, mit offenem Mund und ohne Zurückhaltung, und schon suchten sich ihre Hände wieder, gierig verlangten sie mehr. Sie standen vor dem Meer. Sie knieten sich hin. Küssten sich weiter. Unverhohlen.
    Max war auch da, er kauerte im Schatten, als wäre es ihm unmöglich, woanders zu sein. Worte sprudelten aus ihm heraus.
    »Ich bin immer da, wo es Morgane gibt.«
    Er bewegte kaum die Lippen. Er kratzte sich mit den Nägeln die Wangen. Ein unangenehmes Knirschen.
    »Das Innen von ihren Schenkeln, das ist wie Samt, man könnte denken … Schnee, wenn der Schnee grad gefallen ist.«
    Er lief mit großen Schritten in Richtung Weg, ich dachte, er würde verschwinden. Aber er kam wieder zurück.
    »Morgane riecht nach Kreide. Wenn sie sich wäscht, rinnt das Wasser über ihren Rücken, das macht Sonnenspuren wie der Schneckenschleim auf dem Rücken der Steine.«
    Er sagte es sehr schnell, als wollte er es loswerden. Er kniete sich auch hin, er grub in der roten Erde, einer feuchten Erde, die er mit seinen langen Fingern aufwühlte. Er rieb seine Lippen mit dieser Erde ein. Er wimmerte.
    Ich hätte es ihm gern gleichgetan, wäre gern dazu imstande gewesen. Ich presste die Hände zusammen, spürte die Glasscherben an meiner Handfläche.

    »Du musst aufstehen.«
    Meine Hände bluteten.
    Seine Augen.
    »Eines Tages reiße ich die Männer aus Morganes Bauch … Morgane wird mir gehören. Eines Tages … Nicht mehr lange.«
    Er stand auf. Wich zurück. Er konnte es nicht begreifen.
    »Eines Tages, wenn sie es sieht, muss sie wohl …«
    Ich warf die Glasscherben in das Loch, das er gegraben hatte.
    »Wir müssen gehen«, sagte ich.
    Ich berührte seine Hand.
    »Barschwetter«, sagte ich.
    Er sah mich an, dann den Himmel. Seine schwere Lippe.
    »Gar kein Wetter«, sagte er.
    Er drehte sich nochmal zur Steilküste um, dorthin, wo Morgane verschwunden war.
    »Komm schon Max, wir gehen.«
     
    Er hatte Recht, es war kein Barschwetter. Es war gar kein Wetter für irgendwas. Ich ließ ihn bei seinem Boot und ging ins Dorf hinauf. Lambert war nicht da. Die Tür war abgesperrt, die Fensterläden

Weitere Kostenlose Bücher