Die Brandungswelle
gewünscht, dass er glaubt, das Meer, nur das Meer sei verantwortlich, das wäre leichter für ihn gewesen.«
Er hatte das Thema gewechselt, war zu Lambert zurückgekehrt, als wollte er anderen, noch schwierigeren Worten entgehen.
»Ist es denn leichter, dem Meer zu zürnen?«, fragte ich.
»Ja … Man verzeiht dem Meer leichter als den Menschen … Ich habe ihm alles gesagt, was damals in jener Nacht passiert ist … Er wollte es so. Irgendwann ist er rausgegangen und hat sich auf die Stufen gesetzt, zwischen die Näpfe. Ich dachte, er wäre gegangen. Er hat geraucht. Dann ist er zurückgekommen. Er wollte, dass ich es ihm nochmal erzähle, von Anfang an, alles … Er hat dieselben Fragen gestellt.«
Er hob ratlos die Hand.
»Ich weiß nicht, wo er hingefahren ist.«
Er versuchte ein Lächeln. Er war müde. Das düstere Gesicht eines Menschen, der schlecht geschlafen hatte oder nicht genug. Waren es die Gewissensbisse? Sicher verstärkte meine Anwesenheit seine Müdigkeit noch. Lambert hatte die Wahrheit hören müssen. Hatte Théo ihm auch deshalb erzählt, was geschehen war, um dieses elende Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen zu müssen? Weshalb hatte Nan das Medaillon gestohlen? Ich wollte ihn danach fragen, aber dann dachte ich, dass es wohl nicht so wichtig sei.
Die Katze fing an zu schnurren.
Théo stand auf. Er ging zum Schreibtisch, hob Papiere hoch und legte sie dann wieder zurück, er suchte etwas in diesem hoffnungslosen Durcheinander.
»Manchmal hat Florelle die Nacht bei mir auf dem Leuchtturm verbracht …«
Das sagte er.
Übereinandergestellte Holzkästen dienten als Regal. Darin standen ein paar Bücher, deren blauer Einband an alte Schulbücher erinnerte. Ganz oben auf den Kisten waren staubige Nippes
und ein altes Transistorradio. Ein anderes, moderneres Radio stand auf dem Fensterbrett.
»Ein Fischer brachte sie herüber, wenn er nachts hinausfuhr und die See ruhig war. Er mochte uns gern … Morgens holte er sie auf dem Rückweg wieder ab.«
Er fand, was er gesucht hatte.
»In diesen Nächten schlief Ursula in der Zuflucht .« Das sagte er und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. DIN A4. Zusammengefaltet.
»Geben Sie ihm das …«
Er verließ das Zimmer. Ich hörte ihn durch den Flur gehen, dann war es still. Ich wusste nicht, wo er hingegangen war. Vielleicht auf den Dachboden, zur Dachluke, von wo aus er das Meer, den Leuchtturm und das Haus von Nan sehen konnte.
Ich faltete das Blatt auseinander. Es war ein maschinengeschriebenes Dokument mit dem Stempel des Hafenamts in der oberen linken Ecke.
Ich las es.
Bericht über den Untergang der Sphyrène im Sektor Cap de la Hague am 19. Oktober 1967.
Ort des Unglücks: Raz Blanchard
Art des Schiffes: Segelboot
Nationalität: französisch
Insassen: drei
Gerettete Personen: null
Verfasst von Hafenkapitän Christian Gweener
Am 19. Oktober um 23.07 Uhr empfängt das Semaphor von La Hague ein SOS von einem Segelboot, das auf einen Felsen vor dem Gezeitenstrom Raz Blanchard gefahren ist. Man signalisiert uns drei Personen an Bord. Der Wind kommt aus West. Um 23.30 Uhr sticht das Rettungsboot in See. Schlechte Sicht. Schwere See mit Ebbenströmung.
Um 23.40 Uhr erreichen wir das Gebiet drei Meilen nordöstlich von La Hague. Um 23.55 Uhr entdecken wir das Segelboot La Sphyrène . Fock und Großsegel sind zerrissen. Wir nähern uns mit Mühe. Es ist niemand an Bord. Westwind Stärke 7, Böen. Das Segelboot treibt rasch ab, getrieben vom Wind und von der Ebbe. Wir konzentrieren unsere Suche auf diesen Bereich und dann weiter westlich. Um 0.30 Uhr wird der Körper eines Insassen des Segelboots gefunden. Es handelt sich um einen Mann, ca. 40 Jahre alt, leblos. Das Schlauchboot bringt ihn nach Goury. Wir bleiben vor Ort und versuchen, die beiden anderen Personen zu finden. Das Meer ist immer noch bewegt, starker Wind und mittlere Sicht. Nach mehrstündiger vergeblicher Suche beschließen wir umzukehren. Wir können das Segelboot ins Schlepptau nehmen, aber auf halber Strecke füllt es sich mit Wasser und sinkt immer tiefer. Wir müssen das Tau kappen. Eine Viertelstunde später verschwindet das Segelboot im Meer. Um 4.10 Uhr gehen wir erschöpft von der langen Suche an Land.
Das Rettungsboot wird um 4.30 Uhr im Schuppen abgestellt.
Ein zweiter lebloser Körper, der einer Frau, wird am nächsten Morgen am Strand von Écalgrain gefunden.
Bis heute bleibt die dritte Person vermisst.
R aphaël hatte die
Weitere Kostenlose Bücher