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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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spät es sein mochte, sicher Mitternacht, vielleicht später. Ich machte mir Kaffee, wartete und ging schließlich zur Griffue hinunter.
    In meinem Zimmer sah ich aus dem Fenster auf den dunklen Hügel. Der Himmel war schwarz.
    In Théos Haus brannte kein Licht mehr.
     
    Am nächsten Morgen wachte ich viel später auf als üblich. Ich hatte Mühe gehabt einzuschlafen. Ich sah die Wellen, das Meer, es pochte in meinen Augen, und dann fragte ich mich, was Lambert bei Théo gemacht hatte. Mehrmals hatte ich daran gedacht aufzustehen und nachzusehen. Schließlich war ich eingeschlafen, in der Morgendämmerung. Ein Schlaf ohne Träume.
    Mein Gesicht im Spiegel sah aus, als hätte man mich zusammengeschlagen.
    Ich trank einen sehr heißen und sehr starken Kaffee.
    Théo erwartete mich am Gartentor. Er sprach nicht von Lambert.
Kein Wort über seinen Besuch. Er sprach weder von den Vögeln noch von der Steilküste.
    Ich vermutete, dass Lambert gar nicht da gewesen war. Dass er auf dem Weg in seinem Auto sitzen geblieben war und Théos Schatten in der Küche beobachtet hatte. Dort geblieben war, bis das Licht ausging. Danach war er wohl weggefahren.
    Das dachte ich, während ich Théo ansah.
    Irgendetwas war anders als sonst. Seine Augen wichen mir aus.
    »Angeblich geht es Florelle derzeit nicht gut.«
    Das sagte er, genau diese Worte.
    »Angeblich läuft sie wieder am Strand herum und hält Reden.«
    Seine Hände zitterten.
    »Ich würde sie gern sehen. Können Sie ihr das sagen, wenn Sie vorbeigehen, dass ich sie sehen will?«
    »Ich sage es ihr.«
    Weiter sagte er nichts.
    »Alles in Ordnung, Théo?«, fragte ich.
    Er lächelte seltsam und drehte sich um, ohne zu antworten, ging die Treppe zur Haustür hoch und verschwand im Haus.

N an saß auf einem Stuhl am Fenster, sie bestickte den dunklen Stoff eines Leichentuchs. Die Tür war nicht abgeschlossen.
    So hatte Raphaël sie dargestellt, als Totennäherin, eine gebeugte Frauengestalt unter dem wirren Schopf einer Verrückten.
    Es war das erste Mal, dass ich ihr Haus betrat. Das Zimmer, in dem sie lebte, grenzte an die großen, leeren Säle der Zuflucht . Ich blieb an der Tür stehen.
    »Nan?«
    Sie sah von ihrer Handarbeit auf. In ihrem Schoß lagen eine große Schere und eine Stoffkugel, in der viele Nadeln mit bunten Köpfen steckten.
    »Théo will Sie sehen«, sagte ich.
    Sie gab ein leises Grunzen von sich, wie ein Tier, das sich gestört fühlt, und nahm ihre Arbeit wieder auf. Ich ging zu ihr. Die Nadel bohrte sich in den Stoff, ich hörte, wie sich der Faden spannte, und den ruhigen Atem der Alten. Das Rascheln des Leichentuchs, als sie die Seiten auf ihren Schenkeln zusammenraffte.
    Sie stickte mit kleinen, engen Stichen. Eine Blechdose mit farbigen Spulen stand auf dem Fensterbrett. Der Stoff des Leichentuchs glänzte im Licht.
    Nan stickte die Buchstaben eines Namens.

    »Das ist meiner, mein Totenmantel«, sagte sie und zeigte auf den Stoff.
    Auf dem grauen Stoff der gestickte Name, Florelle.
    Sie hatte nicht Nan gestickt.
    Nan war der Name, den ihr die Lebenden gegeben hatten.
    Der Stoff war kalt.
    »Graublau ist die Farbe des Meeres an den Tagen, an denen das Meer die Menschen mitnimmt.«
    Sie sah mir tief in die Augen, ihr Blick war unangenehm, er durchbohrte mich, ohne mich zu sehen.
    »Was will er denn, der Théo?«
    »Keine Ahnung … Sie sehen.«
    Ein Bild hing über dem Kamin. In blaugrünen Tönen, verklärt stellte es die Zuflucht im Sommer dar. Auf einem Regal standen eine große Pendeluhr und dutzende Kinderfotos. Manche lehnten einfach an der Wand. Einige waren größer als die anderen, weitere waren dahinter, sie sah man nicht.
    »Sind das alle Kinder aus der Zuflucht ?«
    Sie antwortete nicht. Die Fotos waren schmutzig, mit Fingerabdrücken und Spuren von Ruß bedeckt.
    »Haben Sie sie aufgenommen?«
    »Ich.«
    Sie raffte den Stoff zusammen und legte ihn über die Rückenlehne des Stuhls. Dann stand sie auf und ging zu den Fotos.
    »Manche schreiben mir noch, zum Geburtstag oder zu Weihnachten … Die, aus denen nichts geworden ist, schreiben mir nicht.«
    Sie nahm ein Foto in die Hand, ein einzelnes Kind, das im Hof stand, die Arme leicht gespreizt. Es trug bauschige Shorts.
    »Das war der Sohn von Schaustellern. Er hat immer gelacht. Sein Vater hatte einen Bären, er führte ihn an einer Schnur
durch die Dörfer. Ihren Wohnwagen hatten sie auf einer Wiese bei Jobourg stehen. Nach ein paar Tagen sind sie weitergefahren, aber ihren Jungen

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