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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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haben sie vergessen. Als sie es gemerkt haben, war es zu spät, sie waren schon zu weit weg. Sie haben ihn erst im darauffolgenden Jahr wieder abgeholt.«
    Sie suchte nach weiteren Fotos.
    »Ich erinnere mich an alle Gesichter.«
    Sie zeigte mir ein anderes Foto mit gezahntem Rand.
    »Der da ist sechs Jahre bei uns geblieben. Wir haben versucht, ihn unterzubringen, niemand wollte ihn! Dabei sah er aus wie ein Engel … Aber in seinem Innern herrschte das Grauen. Am Ende habe ich zu Ursula gesagt, dass er irgendwann jemanden umbringen wird! Es hat fünfzehn Jahre gedauert, aber er hat es getan.«
    Sie zog ein anderes Foto heran, ein kleines Mädchen mit einem Teddy, den sie an einer Pfote zog. Niedrige Stirn, Blick von unten.
    »Das war vielleicht ein Pechvogel … Immer nass, Regen, Tränen, Pisse … Und so schmutzig! Sie verseuchte das ganze Zimmer mit ihren Flöhen, obwohl wir ihr die Haare geschoren hatten.«
    Sie stellte das Foto wieder hin.
    »Ein Unglück, dieses Mädchen …«
    Sie drehte den Kopf und sah mich mit geradem, sehr direktem Blick an.
    »Warum kommt er nicht, der Théo?«
    »Der Arzt will nicht, dass er rausgeht.«
    Sie lachte merkwürdig.
    »Seit wann hört Théo auf Ärzte?«
    Sie wandte sich von den Fotos ab.
    An der Wand stand ein Schrank aus Nussholz. Sie drehte den Schlüssel und machte eine der großen Türen auf.

    »Ich habe die Namen von allen Kindern in meine Kleider gestickt.«
    Sie zeigte es mir. Auf Kleiderbügeln hingen bestimmt fünfzig schwere, schwarze Kleider, alle gleich. Es waren die Kleider, in denen sie den Unwettern trotzte. Sie streckte die Hand aus, holte ein Kleid heraus und trug es zum Tisch, ins Licht.
    Sie nahm meine Hand, ich spürte in dem dicken Stoff die Wölbung des Fadens, die grau auf den schwarzen Grund des Kleides geschriebenen Namen.
    Namen. Wörter.
    Ihre Augen waren wenige Zentimeter von den Buchstaben entfernt. Es gab ganze Sätze. Der Stoff roch muffig. Sie holte andere Kleider hervor.
    Im Schrank schaukelten die leeren Bügel. Es war das Dasein einer Überlebenden, das sie auf ihren Kleidern festgehalten hatte.
    »Ich habe alles aufgeschrieben, die ganze Geschichte.«
    Ich wusste nicht, von welcher Geschichte sie sprach. War es ihre Liebe zu Théo oder die Geschichte dieser Kinder? Ich zählte mehr als fünfzig Fotos, aber manche waren hinter anderen versteckt oder so klein, dass man sie kaum sah. Und auf einigen Fotos waren mehrere Kinder.
    »Und dieses Kind, das Sie so geliebt haben?«
    Sie runzelte die Stirn.
    »Michel?«
    »Michel, ja.«
    Sie lächelte und suchte zwischen den Kleidern. Fieberhaft. Sie zeigte mir auf dem Stoff die Fadeninschrift. Heute ist Michel acht Jahre alt. Es gab noch andere Sätze. Sie las sie vor. Michel hatte die ganze Nacht Fieber. Wir mussten den Arzt rufen. Sätze auf anderen Kleidern. Michel geht aufs Gymnasium , Worte mit großen, unregelmäßigen Stichen genäht. Seit zwei Jahren ist Michel fort.

    Nan hob den Kopf.
    »Ist Michel zurückgekommen?«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    Mit einer heftigen Bewegung raffte sie die Kleider zusammen und warf sie in den Schrank. Sie schob sie mit der Hand zusammen, ohne sie aufzuhängen, dann schloss sie die Tür ab. Sie ging zu den Fotos zurück, wühlte darin. Ihre Hände waren aufgeregt, ihr Gesicht nervös. Einige Fotos fielen zu Boden. Das Glas eines Rahmens zerbrach. Schließlich fand sie, was sie suchte, das Foto eines Kindes, das sie an sich presste, beide Hände darüber verschränkt.
    »Michel …«
    Sie wiederholte den Namen und fing an zu lachen.
    »Das Meer hat ihn mir gegeben!«, das sagte sie.
    Das Foto wurde zum Teil von ihren Händen verdeckt. Nur die untere Hälfte war zu sehen. Die Beine des Kindes, die Füße in einem Paar Schnürstiefel, neben denen ein kleiner Holzzug stand, der durch eine Schnur mit der Hand verbunden war.
    Nan wiegte das Foto. Sie lachte immer weiter. Ich versuchte, mit ihr zu sprechen, aber sie hörte mich nicht. Ich hob die Fotos auf, die zu Boden gefallen waren. Das Glas des Rahmens. Ich suchte einen Mülleimer, um die Scherben wegzuwerfen. Ich fand keinen. Also behielt ich das Glas in der Hand und stellte den Rahmen an seinen Platz zurück.
    »Ich gehe dann mal …«, sagte ich.
    Dieser Rahmen ohne Glas … Ich sah das Foto an, das kleine Poloshirt mit den Booten … Das Lächeln des Kindes. Ich hatte dieses Gesicht schon irgendwo gesehen, es brauchte nur ein bisschen Zeit. Das Gesicht, das Poloshirt, das

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