Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
bestand aus seinem Vater, der mit wirrem Haar und zerrissenem Gewand in den Saal platzte, die Augen irr und das Gesicht kalkweiß, eine klägliche Anzahl von ebenso zerschunden aussehenden Dienstboten hinter sich herziehend. O mein Gott, o Herr hab Erbarmen, o Grundgütiger schütze uns, drang die Stimme des Vaters verzerrt durch Zeit und Raum, o Jesus Christus, er hat ihn umgebracht … Giuliano … und Lorenzo vielleicht auch. Heilige Maria Mutter Gottes, wir müssen das Haus befestigen, sie werden kommen und uns alle aufhängen, verrammelt die Türen, worauf wartet ihr noch? Alle Heiligen, was sollen wir tun? Kind, los, was sitzt du da herum und spielst! Wir sind verloren … Dieser gottverlassene Idiot von einem verdammten Verräter! Antonio starrte die in Panik auseinanderfallende Gestalt seines Vaters an. Seine eigene Stimme war piepsig in der Rückschau. Wo ist die Mutter? Antonios Vater griff sich in die Haare und zerrte an ihnen. Ich weiß es nicht … alle waren in Panik … ich habe sie stürzen sehen, und dann … Habt ihr die Tore verschlossen, ihr Nichtsnutze? Und die Fensteröffnungen im Erdgeschoß? Womit können wir uns verteidigen? Wo ist der Kaplan? Er soll sich in den Palazzo Medici durchschlagen und in unserem Namen um Gnade bitten. Wir wussten doch nichts … Antonios Vater rannte zur Tür, drehte auf halbem Weg um und stürzte zum Fenster, starrte hinunter in die Gasse. Antonio spähte zur Saaltür hinaus, wo sich die Dienstboten aneinanderdrängelten und verängstigt den Zusammenbruch ihres Herrn beobachteten. Wo ist Onkel Bernardo?, fragte Antonio. Warum ist er nicht mitgekommen? Antonios Vater blieb auf halbem Weg zurück zur Tür stehen, als wäre er an eine Wand geprallt. Er starrte seinen Sohn an, und mit allem Hass, der in ihm tobte und seinen Magen umdrehte, brüllte er: Weil dein Onkel Bernardo ein Mörder ist!
»Was sind das für Leute?«, fragte jemand. Das Pferd hielt an, das Ruckeln hörte auf, und Bandinis Geist schwamm aus dem Saal im Hause Bandini in Florenz heraus, schwamm aus dem Körper des kleinen Jungen, dem die Tränen über die Wangen liefen, schwamm über vierzig Jahre aus Vergessen und Erinnerung, Schmerz und Freude, Liebe und Hass; überwand die Zeit, so wie die Zeit selbst fast alles überwunden hatte, was damals geschehen war, und fand sich in dem Mann wieder, der daraus geworden war und in dessen Herz das als feste Überzeugung geblieben war, was die Zeit nicht hatte überwinden können: dass es seine Aufgabe war, all die Verräter und Mörder zu jagen, ihnen nachzustellen über Meilen hinweg und durch Jahre hindurch und sie zur Strecke zu bringen und damit die Schutzlosen vor ihnen zu behüten und zu verhindern, dass sie ihnen Schaden zufügen konnten. Der kleine Antonio hatte dem in die Gegenwart zurückeilenden Geist des großen Antonio etwas mitgegeben: die Tränen, die er damals geweint hatte und die jetzt aus Antonio Bandinis verbliebenem Auge liefen, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre, denn Bandinis Gesicht war schweißnass. Die Schutzlosen zu behüten … zu verhindern, dass ihnen Schaden zugefügt wurde … die Verräter zur Strecke zu bringen. Für einen kleinen Moment tauchte die Erkenntnis in Bandinis gepeinigtem Hirn auf, dass er sein ganzes Leben nur versucht hatte, das gebrochene Herz seines zehnjährigen Ichs zu heilen, und dass er bei all dem Guten, das er vollbracht, und bei allem Recht, das er durchgesetzt, und bei allem Frieden, den sein Kampf gegen das Verbrechen geschaffen hatte, er das eine Ziel, um dessentwillen er all den Schmerz auf sich genommen hatte, nicht zu erreichen vermocht hatte: Das Herz des zehnjährigen Knaben war immer noch gebrochen.
»Lenkt die Pferde mal ein bisschen beiseite«, sagte Pietro. »Lasst die Leute vorbei.«
Bandini blinzelte und nahm wahr, dass Giuliano den Zügel seines Pferdes führte und den Gaul jetzt zur Seite zog. Auf der Straße näherte sich ein Grüppchen von vielleicht zwanzig Personen. Alle starrten sie an. Bandini, dessen Wahrnehmung weiterhin hinter den realen Geschehnissen herhinkte, spürte es wie einen Schlag, als ihm der Anblick bewusst wurde, den die Menschen boten.
»Buonarotti«, sagte Niccolò rau, »sieh mal nach, ob du ihnen helfen kannst.«
Buonarotti war schon abgestiegen, bevor Niccolò ihn angesprochen hatte. Bandini stierte die Männer, Frauen und Kinder an, die sich im Vorwärtsstolpern zusammendrängten.
Sie gingen alle auf ihren eigenen Füßen, aber nicht, weil es ihnen
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