Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
unter behelfsmäßige Wundverbände zu blicken versuchte und bellte: »Und du? Gehörst du zu ihnen? Und du? Wohin gehörst du?« Er starrte entsetzt in das Geschehen, das vor seinem inneren Auge ablief und sich über die Realität schob wie eine Theaterszene geisterhafter Schausteller, durch die hindurch man das wahre Leid sehen konnte, das sie zu verkörpern versuchten.
»Was ist mit ihr?«, fragte Buonarotti. »Lass mich sehen, Kindchen, was hast du …?«
»Zeig’s ihm«, flüsterte das erste Mädchen. Ihre Begleiterin stöhnte und öffnete den Mund, und mit einem weiteren Schwall Blut wurde ein zerfetzter, zuckender Lumpen in einer pulsenden Wunde sichtbar, wo einmal eine Mundhöhle und eine Zunge gewesen waren. »Sie hat den Ersten von ihnen angespuckt, als er sich über sie hermachte«, flüsterte das erste Mädchen und bohrte ihren Blick in den Pietros.
»Sag es mir, Mädchen«, flüsterte Pietro, dessen Gesicht zuckte. »Was für Männer waren das?«
Das Mädchen senkte den Blick nicht. »Männer wie ihr«, sagte sie dann und wandte sich endgültig ab, ihre Leidensgenossin hinter sich herzerrend.
Buonarotti blieb wie ein Geschlagener stehen und starrte ihnen nach. Pietro atmete tief ein und schlug sich dann mit der Faust auf den Oberschenkel. Bandini sah sich selbst in der Gestalt Buonarottis am Straßenrand stehen und der Prozession hinterherstarren, die an ihm vorbeigezogen war. Ihr Bild verblasste vor seinen Augen, so wie die schwankenden Gestalten kleiner wurden, die sie in der Realität passiert hatten. Er spürte wieder das Gefühl des Verlierens, das er damals gespürt hatte, als tatsächlich geschehen war, wovon ihm sein Geist nun das vage Bild der Erinnerung vorgespielt hatte. Die missbilligenden Blicke seiner Truppe brannten auf seinem Rücken; auf seinen Händen brannte das Blut derer, die er gepackt und gezwungen hatte, ihn anzusehen und ihm Rede und Antwort zu stehen … Er war so sicher gewesen, dass er recht gehabt hatte. Er hatte unrecht gehabt. Nein, er hatte nicht unrecht gehabt; es war nur so, dass er getäuscht worden war. Ein Verband um das halbe Gesicht, die andere Hälfte verdreckt und blutverkrustet, ein stammelnder Mund, Hände, die schwächlich versuchten, ihn abzuwehren … Die eigene Mutter hätte dieses Gesicht nicht erkannt, und dennoch war der Funke der Erkenntnis in ihm hochgezuckt … hatte er sich an die Beschreibung erinnert, die monna Estefania Menafoglio – selbst noch grün und blau geschlagen und geschwollen im Gesicht – von den Männern gegeben hatte, von denen sie überfallen worden war, und die Fresse da vor ihm schien genau zu passen. Aber jemand hatte gebrummt, er solle doch die Unglücklichen in Ruhe lassen, bei der heiligen Jungfrau und allen Aposteln, bitte, patron! Es hatte ihn unsicher gemacht, das zuckende Bündel, das ein Mann gewesen war. Es riss sich von ihm los und taumelte weiter.
Und die Vergewaltigung von Baronessa Estefania Menafoglio war niemals vollkommen gesühnt worden, weil ihm ein Mann durch die Finger geschlüpft war.
»Heilige Maria«, flüsterte Bandini, aber niemand hörte ihm zu. Buonarotti kletterte wieder in den Sattel und schien versucht zu sein, seinen Beutel mit der Medizin fortzuschleudern, band ihn aber dann doch wieder am Sattel fest. Giuliano zog am Zügel von Bandinis Pferd, und es nahm seinen schwankenden Schritt wieder auf.
Bandini starrte vor sich hin. Seine Lippen bewegten sich unter Flüchen oder Gebeten, er war sich selbst nicht darüber im Klaren.
Klar war nur eines: Er wusste jetzt, woher er Lorenzo Ghirardi kannte.
Kapitel 11.
B ruder Girolamo nahm die Kapuze ab und trocknete sich mit der Handfläche die schweißnasse Stirn. Schmutzstriemen blieben zurück. Die beiden anderen Mönche und die Waffenknechte senkten die Köpfe. Magdalena spähte zu ihren Schwestern hinüber. Radegundis hatte sich – die Menschen können einen immer wieder überraschen, manchmal sogar im Guten – nach einiger Zeit in die Behausungen gewagt und geholfen, bis sie auf die Schwangere gestoßen waren. Sie hätte noch einige Monate gebraucht, um niederzukommen. Sie hatten weder auf das Kind noch auf die Mutter Rücksicht genommen. Ohne das viele Blut hätte es beinahe friedlich ausgesehen, wie sie nebeneinanderlagen. Das Kind war so winzig gewesen wie eine Faust, und doch war schon alles an ihm so, wie es später hätte sein können. Radegundis hatte gewürgt und sich ihren Weg nach draußen mit den Ellbogen gebahnt. An der
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