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Die Braut des Nil

Die Braut des Nil

Titel: Die Braut des Nil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jacq
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Der König ist kein ›ich‹,
kein Individuum, das nur nach seinem Vergnügen regiert. Er ist derjenige, in
dem das gesamte Volk vereint ist, um mit den Göttern in Verbindung zu treten.«
    »Und… die Biene?«
    »Die Biene
ist das Symbol des Pharao als König von Unterägypten«, erklärte der Alte. »Die
Biene ist der Geometer, der dank seiner Kenntnisse über die Proportionen die
Stätte errichtet, an der der Honig gemacht wird, das flüssige Gold, die
königliche Nahrung. Der Pharao ist der Baumeister des Königreichs, das er mit
seinen Wohltaten nähren muss.«
    Vor Kamose
öffnete sich eine bisher ungeahnte, unermessliche Welt.
    »Besteht in
diesen Kenntnissen die Wissenschaft der Schreiber?«
    »Die meisten
von ihnen sind nur Beamte ohne innere Überzeugung«, erwiderte der Alte. »Sie
sind mit Verwaltungsaufgaben betraut, die ihr Leben ausfüllen. Was ich dich
lehre, ist das Geheimnis der Hieroglyphen. Es reicht nicht aus, lesen und
schreiben zu können. Man muss die Bedeutung der Worte verstehen, die uns die
Götter offenbart haben. Unsere Sprache ist heilig. Sie ähnelt keiner anderen.
Wer sie zu handhaben weiß, hat Macht über die Lebewesen und Dinge. Aber diese
Macht darf er nicht missbrauchen. Sonst löst er den Zorn des Thot aus, des
Gottes der Schrift.«
    »Birgt jede
Hieroglyphe ein Geheimnis?«
    »Jede
Hieroglyphe ist ein Symbol, das du mit dem Herzen verstehen lernen musst. Durch
das Lesen kann sie zu einem Klang werden. Durch das Schreiben bildet sie deine
Hand und macht sie klug.«
    »Wenn ich es
schaffe, Euch zufrieden zu stellen, werde ich dann in den geschlossenen Tempel
eintreten?«
    »Mich
zufrieden zu stellen hat keinerlei Bedeutung«, erklärte der Alte ungehalten.
»Beginne damit, das Alphabet zu lernen und es von rechts nach links, von links
nach rechts und von oben nach unten zu schreiben.«
    Kamose
erhielt von dem Alten etwa hundert kleine Kalksplitter, auf denen er übte.
    Die ersten
Versuche waren katastrophal, doch der junge Mann machte verbissen weiter. Die
Eule hatte zu lange Füße, der Falke einen zu stark gespaltenen Schnabel, das
Wachtelküken einen zu schmalen Kopf. Der Alte überließ ihn einen ganzen Tag
seinen Fehlern. Dann verbesserte er hier und da einen Strich, ohne den
geringsten Kommentar abzugeben.
    Kamoses Geist
begriff allmählich, seine Hand mühte sich. Dann begann sie, alleine zu
arbeiten. Sie wurde verständig. Nicht über den Verstand, über das Herz hatte
sie begreifen gelernt.
    Als Kamose dem Alten ein
tadellos gezeichnetes Alphabet zeigte, strahlte er mit berechtigtem Stolz.
    »Du weiß noch
nichts«, bemerkte der Alte, »und lernst eher langsam. Wenn du weiterhin nichts
tust, kehrst du wieder aufs Land zurück. Hier ist eine Liste mit Hieroglyphen,
die du zeichnen und auswendig lernen sollst. Stell dir beim Zeichnen Fragen zu
ihrer Bedeutung. Es gibt keinen anderen Weg, als sie über das Herz zu lernen.«
    Gekränkt und
wütend sank Kamose in der Ecke des Büros in sich zusammen, wo er über eine
einfache Matte zum Schlafen verfügte. Er ging nur zwei Stunden am Tag hinaus,
um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen und sich kärglich von Brot, Obst und
Wasser zu ernähren.
    Die Aufgabe,
die ihm der Alte aufzwang, war fast übermenschlich. Sie erforderte
beträchtliche Konzentrations- und Gedächtnisanstrengungen.
    Als er einen
Krampf in der Hand bekam, wurde Kamose bewusst, dass er keine Zeit mehr hatte,
an Nofret oder seine Eltern zu denken. Und doch blieben seine Gefühle bestehen.
Weder seine Liebe noch sein Kummer hatten an Stärke verloren.
     
     
    Plötzlich
aber durchzog ihn ein schrecklicher Zweifel.
    Wenn dieser
ganze Aufwand an Energie nutzlos wäre? Führte der Weg, den er eingeschlagen
hatte, nicht in eine Sackgasse? Der Alte hatte ihm nichts versprochen.
Vielleicht würde es ihm nie gelingen, in den geschlossenen Tempel vorzudringen.
War er nicht zum Sklaven eines Tyrannen geworden, der aus ihm einen blind
ergebenen Sekretär machen würde, der sein Leben lang nur Texte abschreibt, von
denen er nicht das Geringste versteht?
    »Anstatt dich
von stumpfsinnigen Gedanken ablenken zu lassen, tätest du besser daran,
weiterzulernen«, unterbrach der Alte sein Grübeln. »Ich habe den Eindruck, du
hast vergessen, deine Gefühle außen vor zu lassen.«
    »Das ist
nicht möglich… Irgendwann kommen sie wieder. Was Ihr verlangt, ist
unmenschlich!«
    »Die
Hieroglyphen sind die Sprache der Götter, nicht der Menschen. Sonst gäbe es Ägypten
schon

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