Die Braut des Piraten
ohne raue Kanten, und seine langen und schmalen Hände waren nicht die eines Arbeiters oder eines Mannes, der sich aus dem einfachen Seemannsstand hochgearbeitet hatte.
Was war er also? Wer war er?
Ein Mann, der sich schwer einordnen ließ, so viel stand fest.
In die gesteppte Überdecke gehüllt, stand Olivia auf und wäre beinahe hingefallen, als das Schwanken des Bodens unter ihr sie überrumpelte. Ihre Knie waren beängstigend weich, und in ihrem Kopf drehte sich alles, als sie zögernd einen Schritt auf den Tisch zuging. Es war wohl unvermeidlich, dass drei Tage im Krankenbett und die Wirkung der beruhigenden bitteren Medizin sich bemerkbar machten.
Sie kniete sich auf einen mit Kissen belegten Sitz unter dem Fenster und spähte hinaus. Auf allen Seiten besonnte See. Und in der Ferne, fast noch am Horizont, ein Schiff; ein grell in Rot und Gold bemaltes Schiff mit großen weißen Segeln, die sich im Wind blähten. Auf Deck waren Schritte und Stimmen zu hören, vor allem die Stimme des Schiffsherrn, die alles übertönte.
Olivia drehte sich zur Kabine um. Die Steppdecke behinderte ihre Bewegungen. Ohne bewusste Absicht öffnete sie einen der Wandschränke. Er enthielt Teller, Gläser und Silberzeug. In einem anderen entdeckte sie einen mit Lavendel bestreuten Stapel Wäsche. Sie durchsuchte das Zeug – Hemden, Nachtwäsche, Tücher. Sicher war etwas Brauchbares darunter.
Sie zog ein Nachthemd hervor und schüttelte es. Der Schiffsherr war so groß, dass sein Hemd ihr als Kleid dienen konnte. In Sekundenschnelle hatte sie es über den Kopf gezogen und die Seidenbänder des Spitzenkragens zugebunden. Die viel zu langen und zu breiten Ärmel rollte sie bis zu den Ellbogen auf. Der Saum reichte ihr bis zu den Knöcheln und umgab sie in verschwenderischer Fülle. Doch dieses provisorische Kleid reichte aus, um ihr Gefühl der Verletzlichkeit zu mindern. Sie wandte sich wieder zum Schrank um und suchte ein rotes Tuch heraus. Es ergab einen annehmbaren Gürtel und zügelte die Stofffülle ein wenig.
Über einem Waschtisch mit Marmorplatte war ein kleiner Spiegel angebracht, und Olivia betrachtete sich darin. Sie war noch blasser als sonst, und ihre schwarzen Augen wirkten mit den blutunterlaufenen Schatten darunter unnatürlich groß. Ihre Nase, die lange Granville-Nase, ihr auffallendstes Merkmal, empfand sie heute als noch charakteristischer.
Sie nahm einen Elfenbeinkamm vom Waschtisch und fuhr damit durch ihr Haar, doch widersetzten sich ihre schwarzen, hoffnungslos verfilzten Löckchen ihren Bemühungen. Sie musste unbedingt ihr Haar waschen, das stumpf und leblos war, das schlaffe Haar einer Bettlägerigen.
Olivia gefiel sich gar nicht – so bleich, matt und ungepflegt, als wäre sie eben unter einem feuchten Stein hervorgekrochen. Stellenweise war ihre Haut noch wund, und als sie die schmerzende Stelle an der Hinterseite ihres Schenkels untersuchte, entdeckte sie einen dicken Verband.
Sie berührte ihn leicht und errötete erneut. Er hatte ihre Wunden verbunden. Er hatte sie gereinigt und sich ihrer intimsten Bedürfnisse angenommen. Jetzt spürte sie seine Hände auf sich, so lebhaft, als wäre die Erinnerung Wirklichkeit. Er hatte sich Arzt genannt, doch war Olivia nie einem Arzt wie dem Herrn der
Wind Dancer
begegnet.
Und was hatte er ihr angeboten, ehe er ging? Etwas, das sie wollte, wie er angeblich wüsste. Er sprach in Rätseln und doch schlugen seine Worte tief in ihr eine Saite an, eine Saite, die sie noch nicht benennen konnte.
Rätsel galt es zu lösen. Mit einer raschen Bewegung warf Olivia den Kamm weg, griff in ihr dichtes, wirres Haar und fasste es hinter dem Kopf zusammen. Mit Hilfe eines zweiten Tuches, diesmal eines blauen, band sie die Locken aus dem Gesicht und musterte sich abermals im Spiegel. Ihre Blässe hob sich krass von dem gelben Tuch ab. Sie biss sich in die Lippen, in der Hoffnung, ein wenig Farbe hineinzubringen und kniff sich aus demselben Grund in die Wangen. Es nützte nichts.
Sie drehte dem Spiegel den Rücken zu und nagte an ihrem Daumennagel. Er hatte gesagt, er würde ihr Dinge zeigen, die Lord Granvilles Tochter unter normalen Umständen nie zu sehen bekäme. Weitere Rätsel.
Warum empfand sie außerdem dieses sonderbare Gefühl des Entrücktseins? Nicht von diesem übers Wasser dahingleitenden Schiff, nicht von der Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht und dem deutlichen Bewusstsein von ihrem Körper, sondern von dem, was und wer sie gewesen war, ehe sie ins
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