Die Braut des Satyrs
Ihre Schwester warf ihr einen bedeutsamen Blick zu, als müsste Juliette wissen, was das hieß. Aber sie hatte keine Ahnung.
»Ah, nun, das freut mich.« Juliette blickte zu den Schuppen auf Elises Armen und sah, dass sie rasch verblassten. Ihre Haut wirkte sekündlich normaler. »Ach, Elise, wo warst du nur die ganze Zeit? Hast du dich in dem Fluss verwandelt, um unseren Angreifern zu entfliehen, und konntest mich danach nicht wiederfinden?«
»Aber erinnerst du dich denn nicht? Wir haben uns wiedergefunden, vor einem Monat erst – auf der Brücke in Paris.«
Erschrocken begriff Juliette, dass sie an dem Abend auf dem Pont Neuf recht gehabt hatte. Elise war die Frau, die sie mit Lyon gesehen hatte!
»Ah! Allmählich verstehst du unsere Situation.«
»Aber Lyon sagte, seine … Partnerin … an jenem Abend war eine Nereide. Sie hieß Sibela.«
Sie schien erstaunt ob Juliettes Wissen, erholte sich jedoch schnell. »Mein Meername. Wie auch immer, ich sah dich danach wieder, aber du hast mich nicht bemerkt. Es war gleich am nächsten Abend, als du aus seinem Hotel kamst.« Sie legte Juliettes Hände nochmals auf ihren runden Bauch. »An jenem Abend schenkte er mir dieses Kind.«
Juliette zog ihre Hände zurück und schlug sie sich vor die Brust, weil sie das Gefühl hatte, sie würde von einem Dolch durchbohrt. Suchend blickte sie Elise in die Augen. Dort las sie die Antwort, die sie befürchtet hatte, und flüsterte: »Es ist von Lyon.«
»Ja.« Elise strich sich sehr zufrieden über ihren Bauch. »Exakt ein Monat ist vergangen, seit ich in seinem Hotel mit ihm das Bett teilte. Und heute Nacht ist Vollmond. Das Kind braucht seinen Vater.«
Sie verstummte abwartend.
Aber Juliette stand einfach nur da, starrte Elise an und war außerstande, etwas zu sagen. Nach einer qualvollen Pause ergab sie sich der Tatsache, dass sie selbstlos handeln musste.
»Ja, natürlich, ich verstehe.«
Nach allem, was ihre Schwester ihretwegen hatte durchmachen müssen, und in Anbetracht ihres Zustands, schien es die einzige Antwort, die sie geben konnte.
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16
L yon schlug die Vordertür zu, dass sie im Rahmen erbebte, und zwang sich, drei offensichtliche Tatsachen hinzunehmen.
Es war Vollmond.
Der Ruf hatte begonnen.
Und Juliette war fort.
Letzteres hallte ihm durch den Kopf und erschütterte ihn zutiefst.
Er eilte durch das Haus und blickte sich von der obersten Terrassenstufe aus in seinem Garten und dem dahinterliegenden Park um, als könnte sie ihm auf magische Weise wieder erscheinen, wenn er bloß angestrengt genug hinsah. Als er vor wenigen Stunden von Nick zurückgekommen war, hatte er sie gesucht, doch sie war nirgends zu finden gewesen.
Inzwischen waren alle Bediensteten gegangen, wie sie es stets taten, wenn die Dämmerung einsetzte. Sie wohnten in Häusern unmittelbar außerhalb der Gutsmauern. Zuvor aber hatte er sie durch das gesamte Haus und über das Grundstück gescheucht, um nach Juliette zu suchen. Es war vergebens.
Götter!
Er raufte sich mit einer Hand durch sein Haar, bevor er das Einzige tat, was er jetzt noch tun konnte. Mit großen Schritten lief er die Terrassenstufen hinunter und über den großen Mosaikplatz zur hinteren Gartenpforte, die er weit aufstieß.
Juliette fühlte sich draußen nicht wohl. Trotzdem war sie aus dem Schutz seines Hauses geflohen. Vor ihm. War sie überhaupt freiwillig fortgegangen?
Im Garten war ihre Duftspur noch frisch. Sie musste kürzlich hier gewesen sein, war es allerdings nicht mehr. Da sie sich zusehends wohler mit ihren Wurzeln wie auch mit seiner Nähe fühlte, hatte sie aufgehört, immerfort an sich zu halten. Je entspannter sie wurde, umso klarer strömte der Feenduft von ihr aus, dessen zartes Aroma zu einem wesentlichen Teil von Lyons Leben geworden war. Sie zu verlieren, war unvorstellbar.
»Juliette!«, rief er, obgleich er wusste, dass es zwecklos war.
Er wanderte weiter in Richtung der geweihten Klamm. Von Wald umgeben, war sie in der Mitte der drei Satyr-Anwesen verborgen, im gleichen Abstand zu jedem von ihnen. Lyon bewegte sich sicher durch das Zwielicht, denn er kannte diesen Weg gut, ging er ihn doch, seit er erwachsen war, einmal im Monat. Aber selten hatte er es mit weniger Begeisterung getan.
Vielleicht war er schuld, dass sie geflohen war. Er hatte sie richtig auf das Ritual vorbereiten wollen, indem er ihr alles erklärte. Hatte er ihr damit Angst gemacht? Könnte er sie doch nur finden, sie beruhigen! Wie konnte er ihr
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