Die Braut des Satyrs
Juliette umzuhängen. Das Band war grün von Algen, so dass Juliette angewidert noch weiter zurückwich.
»Was ist los? Du benimmst dich, als wäre es eine Seeschlange«, sagte die Frau hörbar verärgert, hängte sich das Ding wieder um und drehte die Kette, bis sie den Anhänger gefunden hatte, der daran baumelte.
Diesen hob sie mit zwei Fingern hoch und zeigte ihn Juliette. Er schien aus Zinn oder Eisen zu sein, pechschwarz vor Rost.
Aber er kam Juliette bekannt vor.
Seltsam fasziniert nahm sie den Anhänger in die Hand, so dass sie durch die Kette mit der Frau verbunden war. Mit wachsender Spannung strich sie über das schmierige Metall. Da war etwas eingraviert, zwei Zahlenreihen, wie sie sah, die kaum noch zu entziffern waren.
Sie kratzte den Belag mit ihrem Fingernagel weg und beugte sich über den Anhänger. Die obere Zahl war schnell freigelegt: 1804, genau wie das Geburtsdatum auf ihrem eigenen Anhänger!
Eilig schabte sie die zweite Zahl frei. Bei dieser war es nicht so leicht, aber das Wesen vor ihr wartete geduldig, bis Juliette auch diese Zahlenfolge lesen konnte. 8901! Dies war die Nummer, unter der Elise im Pariser Findelkinderheim registriert gewesen war. Sie hatte sie in jenem Sommer vor drei Jahren an ihrer Kette getragen, als sie sich kennenlernten. Juliettes Nummer war die unmittelbar davor.
Sie schloss die Faust um den Anhänger. »Woher hast du das?«
»Erkennst du mich nicht?« Meergrüne Augen, dieselbe Farbe wie ihre, blinzelten sie an. Dann wurde ihr die Kette entzogen, während Juliette sich vorbeugte und der Frau das Haar aus dem Gesicht strich.
»Erkennst du mich nicht?«, fragte sie nochmals.
»Elise?« Ein Anflug von Hoffnung schwang in Juliettes Stimme.
Die Frau streckte eine Hand aus und glitt über Juliettes helle Locken. »Licht und Dunkelheit. So hat uns deine Madame Fouche früher immer genannt, weißt du das noch?«
Nun stieß Juliette einen erstaunten Schrei aus und umarmte die Frau. Sie bemerkte gar nicht, dass ihre Umarmung nur halbherzig erwidert wurde, da sie ohnehin gleich wieder zurückwich und die andere verwundert ansah.
»Aber alle dachten, dass du tot bist!«, flüsterte sie in einem Tonfall, der um eine Erklärung flehte. »Ich auch. Eine Zeit lang glaubte ich sogar, dass ich dich getötet hätte, und einige denken das bis heute.«
Elise schlug die Augen nieder. »Mir war nicht möglich, zu dir zurückzukehren.«
Diese ausweichende Antwort passte zu Elise, denn sie war stets sehr verschlossen gewesen. Als sie nach Burgund gekommen war, hatte sie so gut wie nichts über die sechzehn Jahre ihres Lebens erzählt, die hinter ihr lagen. In jenem Sommer waren sie und Juliette unzertrennlich gewesen, dann auf einmal war Elise verschwunden.
Juliette ergriff Elises blasse Hände, entschlossen, das Mädchen zurückzuholen, das sie gekannt hatte. »Elise, ich sah deinen Namen im Register des Hospice in Paris. Er stand direkt unter meinem, und aus dem Register weiß ich, dass der Abstand, in dem wir dort abgegeben wurden, nicht Monate, Tage oder Stunden betrug, sondern bloß Minuten! Wir wurden beide zur gleichen Zeit dort abgegeben, am 20. Dezember 1804!«
Desinteressiert zuckte die Frau mit den Schultern.
»Aber begreifst du denn nicht, was das bedeutet? Dieser Beweis, die Nummern und dass wir die gleichen Augen haben? Es kann kein Zufall sein. Es muss bedeuten, dass wir Schwestern sind, so wie wir es früher vorgaben!«
»Wunderbar!«, entgegnete die andere hölzern.
Was ging hier vor? Elise war zurückgekommen, doch sie war nicht mehr die Schwester, an die Juliette sich erinnerte. Es war beinahe, als bewohnte eine andere ihren Körper.
Der geschwollene Bauch ihrer Schwester stieß versehentlich gegen ihren. Für einen Moment hatte Juliette ganz vergessen, dass in Elise ein neues Leben wuchs.
»Werde ich Tante?«, fragte sie.
»Oui.«
Dieses Thema schien ihr weit angenehmer, denn lächelnd nahm sie Juliettes Hände und legte sie auf ihren Bauch.
Als sie das Kind treten fühlte, musste auch Juliette lächeln. Sie hatte dieser lieben Frau so vieles genommen, beinahe ihr Leben. Und selbst wenn sie Elise nicht umgebracht hatte, so war sie doch für den Überfall damals auf sie verantwortlich. Es war eine Freude, sie wohlauf zu sehen und zu erfahren, dass sie ihr bald eine Nichte schenken würde. Die Aussicht, auf einmal zwei Familienmitglieder zu bekommen, trieb Juliette Glückstränen in die Augen.
»Ich bin hergekommen, um es zur Welt zu bringen.«
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