Die Braut des Satyrs
sie am Arm eines Fremden die Brücke überquert hatte.
»Schnell!«, flüsterte sie Lyon zu.
Die Pferde, die er hatte bereitstellen lassen, tauschte er gegen eine Mietkutsche ein, und sobald sie in dem Wagen saßen, fuhren sie los, fort aus Paris. Drinnen lehnte Lyon seinen Kopf ermattet gegen die Lederpolster und schloss die Augen.
In der darauffolgenden Stille betrachtete Juliette die städtischen Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorbeikamen: Nôtre Dame, das Hospital. Hin und her gerissen zwischen Freude und Angst, befingerte sie die Bänder ihrer Tasche.
Sie hätte sich so oder so nicht für eine Rückkehr entschieden. Drei Jahre lang war sie buchstäblich Valmonts Gefangene gewesen, und die Aussicht auf Freiheit war viel zu verlockend. Zudem war sie stets darauf bedacht gewesen, keine Freundschaften zu schließen, so dass sie nichts Wertvolles zurückließ. Ausgenommen natürlich Fleur.
Ihr kamen die Tränen.
Arme Fleur! Was war mit ihr geschehen?
Ihr gegenüber hockte Lyon, der aussah, als würde er schlafen. Sie sah seine Hände an, die auf seinen Schenkeln ruhten. »Sehr groooß«, hatte Fleur sie genannt, und das waren sie fürwahr. Mit ihm allein zu sein, machte Juliette nervös, die auf ihrem Sitz beiseiterutschte.
Ihr Blick wanderte höher, über seine breite Brust, den kräftigen Hals hinauf zu seinem kantigen Kinn. Und weiter zu faszinierenden Lippen, die so sinnlich wie jene gemeißelten waren, die Juliette an den Statuen der römischen Götter im Louvre bewundert hatte.
Wie würden sie sich die Zeit hier in dieser engen Kutsche vertreiben? Und wo verbrachten sie die Nächte während der Reise?
Prompt merkte sie, wie sie hysterisch wurde. Was tat sie nur? Nachdem sie seine Gedanken beeinflusst hatte, war er wahrscheinlich verrückter als sie. In seinem Hotel hatte sie ihn glauben gemacht, sie hätten das Bett geteilt, und gewiss dachte er nun, das gäbe ihm das Recht, es abermals zu tun. Falls Valmont sie einholte und entdeckte, dass sie nicht mehr so jungfräulich war wie zuvor, würde er rasend vor Zorn und sehr gefährlich.
Auf der Rue Mouffetard herrschte dichter Verkehr, der die Kutsche nötigte, langsamer zu fahren. Nachdenklich blickte Juliette zur Tür und überlegte, ob sie fliehen sollte. Eigentlich war es nicht zwingend erforderlich, dass sie Paris verließ. Sie könnte schlicht einen neuen Namen annehmen und sich eine Arbeit in den Außenbezirken suchen, wo niemand je hinkam, den sie kannte. Schließlich begann jenseits der Stadt das
weite Land
, nicht unbedingt ihr Lieblingsziel.
Sollte die Kutsche noch ein wenig langsamer werden, könnte sie herausspringen, ohne sich ernstlich zu verletzen. Den Blick auf den Türhebel gerichtet, rutschte sie vorsichtig näher zur Tür.
Knall!
Ein gestiefelter Fuß donnerte auf ihre Sitzbank, zwischen ihr und der Tür.
Erschrocken drückte sie ihre Tasche an die Brust und wich zurück.
Lyon öffnete ein bernsteinbraunes Auge. »Bleib! Dir geschieht nichts.«
»Du willst mich … nicht angreifen?«
»Nein, ich werde dich nicht angreifen«, bestätigte er ruhig.
Aus unerfindlichen Gründen glaubte sie ihm; vermutlich traute sie ihm, weil die Alternative zu beängstigend war. Und in Wahrheit war sie auch nicht sicher, ob ihr Fluchtplan sonderlich durchdacht gewesen war.
Sie schluckte und machte sich gerade. »Ich nehme dich beim Wort.«
Offenbar hielt er die Angelegenheit für erledigt, denn er schloss die Augen wieder, als wären seine Lider viel zu schwer, um sie offen zu lassen, und seufzte. »Du heißt Juliette, nicht wahr?«
Sie nickte, begriff dann jedoch, dass er es ja nicht sehen konnte, also sagte sie:
»Oui.«
»Hast du immer schon in Paris gelebt, Juliette?«
»Dieses Gespräch führten wir bereits.«
»Sei so gut, und erzähle es mir noch mal!«
Für einen Moment war es still im Wagen. Von draußen hörte Juliette das Klappern der Pferdehufe und das Schreien und Platschen von Gänsen, die aus einem öffentlichen Springbrunnen aufflatterten. Ihre Hände begannen zu schwitzen.
»Ich kam vor einem Jahr nach Paris«, fing sie an. »Vorher lebte ich in Burgund.«
»Red weiter! Das Sprechen strengt mich sehr an, aber ich höre dir zu.«
»Was soll ich erzählen?«
»Erzähl mir … von dir, von deiner Familie, wie wir uns kennenlernten. Rede einfach!«
Da sie auf diese Weise gleichzeitig alle Naturgeräusche übertönen konnte, tat sie, was er wollte. »Ich wohne, wohnte in einer Art … Pension in Paris, zusammen mit
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