Die Braut des Shawnee-Kriegers
sein. Wolf Heart stellte sich vor, wie das Tier durch den mondbeschienenen Wald rannte, die Nase an der Spur einer Beute, und seinem Rudel ein Zeichen gab. Ein Schauer überlief ihn, und er wusste mit plötzlicher Gewissheit, dass der Wolf ihn rief.
War es ein Zeichen? War er zu weit von seinem Versprechen abgewichen? Wolf Heart drückte Clarissa an sich, als der schaurige Ton noch einmal erklang, und ihm wurde bewusst, dass er diesem Ruf noch heute Nacht folgen musste. Er würde die Prüfung noch einmal bestehen, würde fasten und der Kälte trotzen und seinen Geist und sein Herz öffnen. Er würde nicht ins Dorf zurückkehren – und zu Clarissa –, bis er alles erfahren hatte, was sein unsoma ihm sagen wollte.
Swan Feather saß allein in ihrer Hütte. Das niedergebrannte Feuer warf Licht und Schatten über ihr zerfurchtes Gesicht. Als sie zu ihm aufsah, war ihr Blick traurig und wissend, und Wolf Heart begriff, dass er nichts zu sagen brauchte. Auch sie hatte den Ruf des Wolfs gehört, und sie wusste, was es bedeutete.
Swan Feathers alte Augen beobachteten ihn, als er durch die Hütte ging und die schlafende Clarissa auf das Fellbett legte. Ihr strenger Blick wurde weich, als er kurz auf dem erschöpften Mädchen ruhte und dann zu ihm zurückglitt.
"Geh jetzt", sagte sie leise. "Ich werde sie behüten, so gut ich kann. Aber ich bin eine alte Frau, und ihr Geist ist frei."
Wolf Heart nickte. Er verstand nur zu gut, was sie meinte. Er schaute Clarissa an und wusste, dass es vielleicht zum letzten Mal war. Dann gab er sich einen Ruck, verließ die Hütte und verschwand in der Nacht. Es gab keinen Grund, zu seiner eigenen Behausung zurückzugehen. Wenn ein Mann zu einer Vision gerufen wurde, brauchte er weder Nahrung noch Wasser oder Waffen – nur einen willigen Körper und einen offenen Geist.
Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, begann er zu laufen. Der Wind wehte ihm entgegen, kühlte sein Gesicht und ließ sein langes schwarzes Haar flattern. Er spürte, wie der Wald sich um ihn schloss, fühlte die Kraft der Nacht und hörte in der Ferne den wilden, zwingenden Ruf des Wolfs.
9. Kapitel
Früh am nächsten Morgen weckte Swan Feather Clarissa mit einem nicht gerade sanften Rütteln. " Peh-eh-wah!" brummte sie auffordernd und zerrte an ihrem Arm. "Komm!"
Clarissa unterdrückte ein Stöhnen und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie tastete nach ihren Mokassins und tappte dann zögernd hinaus in den kühlen Morgen. Die Sonne war nur ein blasser Streifen über den Baumkronen, und im scharfen Wind bekam sie rasch eine Gänsehaut.
Auf den beiden Rehhäuten neben der Hütte, die noch über die Rahmen gespannt waren, glänzte der Morgentau. Mit sinkendem Mut wappnete Clarissa sich gegen einen neuen Arbeitstag mit dem Knochenschaber, doch Swan Feather hatte offenbar andere Pläne.
"Iss." Sie drückte Clarissa ein faustgroßes Stück des gestrigen Rehbratens in die Hand. Das Fleisch war kalt und von erstarrtem Fett durchzogen, aber als sie einen Bissen nahm, merkte sie, dass sie völlig ausgehungert war. Sie vergaß alles, was Mrs. Pimm ihr an Tischmanieren beigebracht hatte, und stopfte sich den nächsten Bissen in den Mund.
Kaum hatte sie mit dem Kauen begonnen, als die alte Frau ihren Ellbogen fasste und sie zu einem überwucherten Pfad schob, der zu einem Dickicht hinter der Hütte führte. Erst jetzt bemerkte Clarissa den leeren Weidenkorb an ihrem mageren Arm.
Resigniert gab sie die Hoffnung auf, noch mehr zu essen zu bekommen, und folgte der zwergenhaften Gestalt. Trotz ihrer arthritischen Knochen lief Swan Feather wieselflink durchs Gebüsch. Clarissa musste ihre langen Beine ganz schön strecken, um mit ihr Schritt halten zu können, als der Weg sich unter bemoosten Bäumen und um mit Flechten überwucherte Felsbrocken herum wand.
Die Sonne war inzwischen über den Horizont gestiegen und überschwemmte den Wald mit ihrem goldenen Licht. Die Vögel zwitscherten, und die Eichhörnchen schnatterten und schimpften von den Bäumen.
Als ihr schlaftrunkener Kopf allmählich klar wurde, erinnerte Clarissa sich an den Schwimmunterricht des vergangenen Abends und an Wolf Hearts leidenschaftliche Küsse. Sie dachte an ihren Streit, an die Raubkatze und – ein wenig verschwommen – an den Heimweg, auf dem sie in seinen Armen eingeschlafen war. Vage erinnerte sie sich daran, auf ihr Bett gelegt worden zu sein. Demnach musste Wolf Heart sie in Swan Feathers Hütte gebracht haben.
Er hatte sie
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