Die Braut des Shawnee-Kriegers
durch die Ausläufer des Dorfs in den Wald marschierte. Sie fand den Weg, der zu der großen Wiese führte, und genoss die Stille, die sie umgab. Der Wind wisperte in den jungen Blättern. Eine Drossel sang ihr Lied in einem Brombeergebüsch. Allmählich beruhigte Clarissa sich wieder.
Weshalb regte sie sich eigentlich so auf? Sie hatte viel Schlimmeres durchgestanden als dieses dumme Ballspiel, bei dem es ja letztlich nur um die Ehre ging. Sie brauchte nur die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten. Dann konnte sie sich zurückziehen und ihre Wunden lecken, während die Shawnee feierten und tanzten.
Feierten und tanzten!
Clarissa verhielt mitten im Schritt. Ihr Herz begann zu klopfen. Wieso hatte sie nicht gleich daran gedacht? Das bevorstehende Fest, wo jedermann nur an sein Vergnügen dachte, war der ideale Zeitpunkt für ihre Flucht!
Während sie den Wiesenpfad hinuntereilte, schmiedete sie die wildesten Pläne. Für das Fest würden die Frauen sicher jede Menge Speisen vorbereiten. Es dürfte nicht allzu schwer sein, ein paar Maiskuchen und etwas Rehfleisch beiseite zu schaffen und in einer Büffelledertasche zu verstecken, die sie später abholen konnte. Was das Pferd betraf … Niemand würde sich darum reißen, während der Feier die Pferde zu bewachen. Mit etwas Glück konnte sie sich in den Pferch schleichen, ein Pferd auswählen und es leise und heimlich in den Wald führen. Bis die feiernden Indianer sie vermissten, war sie längst auf dem Heimweg nach Fort Pitt.
Die Frau des Häuptlings hatte gesagt, dass es noch einen halben Mond dauerte. Unter zivilisierten Menschen bedeutete das zwei Wochen. Damit blieb ihr Zeit genug, um alles bestens vorzubereiten.
Beim Anblick der sonnenbeschienenen Wiese vergaß sie zunächst einmal ihre Fluchtpläne. Wann immer sie hierher kam, war sie jedes Mal aufs Neue überwältigt von der sich dauernd verändernden Schönheit dieses Meeres aus Gras und Blumen. Die Wiese würde sie vermissen, wenn sie wieder in Baltimore war. Plötzlich spürte sie einen Kloß in der Kehle. Sie würde vieles vermissen.
Vor allem Wolf Heart.
Doch dies war nicht der rechte Augenblick, sentimental zu werden. In den kommenden Tagen brauchte sie einen klaren Kopf und ein freies Herz. Sonst war sie verloren.
Nachdem ihr wieder eingefallen war, was Swan Feather ihr aufgetragen hatte, sammelte sie Kermesbeeren, Disteln, Wegerich und Sauerampfer. Am anderen Ende der Wiese war ein kleiner Teich, an dem Rohrkolben wuchsen. Clarissa beschloss, dass sie die auch ganz gut gebrauchen könnten, und machte sich auf, welche zu holen.
Der Morgenwind spielte mit ihrem Haar. Es war ein so angenehmes Gefühl, dass sie in den Nacken langte und das Lederband löste, das ihre Locken zusammenhielt, so dass das Haar offen herunterfallen konnte. Rotschwingenamseln lärmten in den Binsen, die den Teich säumten. Mit ihren schrillen Pfiffen schimpften sie munter auf Clarissa ein, während sie sich daranmachte, die jungen Triebe der Rohrkolben mit ihrem scharfen kleinen Messer abzuschneiden.
Als sie aufblickte, entdeckte sie noch etwas anderes, das am Ufer eines der Bäche wuchs, die den Teich speisten. Brunnenkresse! Sie liebte Brunnenkresse. Der würzige Geschmack ihrer Blätter wäre genau die richtige Frühjahrskur für Swan Feather, deren urwüchsige Energie in letzter Zeit ein wenig zu erlahmen schien.
Clarissa ging um den Teich herum, wobei sie gut aufpasste, dass sie auf dem feuchten Boden nicht über eine Schlange stolperte. Sie konnte die Brunnenkresse noch immer sehen, doch das Bachufer war an dieser Seite von Dornen und Brennnesseln überwuchert. Es wäre besser – zumindest nicht so schmerzhaft –, sich ihm von der anderen Seite zu nähern.
Ungeduldig, jedoch fest entschlossen, umrundete sie den Teich noch einmal. Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel, und Clarissa war ziemlich erhitzt, als sie sich an der Stelle hinkniete, wo der Bach in den Teich floss. Jetzt befand sich die Brunnenkresse auf der anderen Uferseite und damit außer Reichweite. Wenn sie sich über das stille, kristallklare Wasser beugte, könnte sie sie vielleicht erreichen …
Clarissas Herzschlag setzte fast aus, als sie nach unten sah und ihr Spiegelbild auf der glatten Oberfläche erblickte.
Seit dem Tag des Spießrutenlaufs hatte sie tunlichst vermieden, in irgendetwas zu schauen, das ihr Gesicht widerspiegeln könnte. Sie wollte nicht sehen, was ihre Fingerspitzen ihr verrieten – die langen Narben und die
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