Die Braut des Vagabunden
des Anwesens ablenken. Er würde sie so beschäftigen, dass ihr keine Zeit blieb, ihn auf diese nachdenkliche und fragende Weise anzusehen. Und er würde dafür sorgen, dass sie beide vergaßen, dass seine Hände jemals anders als vollkommen ruhig gewesen waren.
Nun, da er eine Entscheidung getroffen hatte, ließ die Anspannung seiner Muskeln nach, und der Rhythmus seiner Musik floss ruhiger dahin. Er strich mit den Fingern über die Saiten und wünschte, es wäre Temperance – oder es wären ihre Finger auf seiner Haut. Sein Blut pulsierte schneller, und er begriff, dass er nicht bis zum nächsten Morgen warten müsste, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er konnte einfach in ihr Gemach gehen und sie lieben. Und am nächsten Morgen mit ihr sprechen, so wie er es in jener ersten Nacht getan hatte.
Er ließ die Vorderbeine des Stuhls auf den Boden kippen und wollte gerade aufstehen.
Da trat Temperance in den Schein des Mondes, direkt vor ihm.
Erschrocken ließ er sich zurückfallen. Die Musik musste ihre leisen Schritte übertönt haben. Ein paar Sekunden lang starrte er sie nur an, bevor er sich fasste.
„Guten Abend“, sagte er und versuchte, so kühl zu reagieren, als geschähe so etwas jede Nacht. „Du siehst sehr schön aus im Licht des Mondes“, fügte er hinzu, weil er meinte, ein Ehemann würde so etwas sagen.
Ihr Gesicht konnte er nicht genau erkennen, aber das Kompliment schien sie nicht in dem Maße zu erfreuen, wie er es erwartet hatte. Zu spät begriff er, dass, wenn sie mit dem Rücken zum Fenster stand …
„Du kannst mein Gesicht nicht erkennen“, sagte sie. „Ich kann für dich nicht mehr sein als ein vager Umriss.“
„Stimmt nicht“, erwiderte er und verfluchte sich selbst. Nur Temperance gelang es, ihn allein durch ihre Nähe so zu verwirren. „Das Licht liegt wie ein Strahlenkranz um dein Haar. Es wirkt sehr ätherisch.“
„Hmm.“ Zu seinem Ärger schien sie durch seine Erklärung wenig beeindruckt.
Ohne mehr zu sagen, begann sie, vor ihm auf und ab zu schreiten. Ihr Verhalten erinnerte Jack an ein Raubtier, das seine Beute einkreist.
Alle Muskeln in ihm spannten sich an, so wenig gefiel es ihm, sich selbst als Beute zu sehen. Gewiss bedeutete ihre Unruhe nur Aufregung, nicht etwa, dass sie mit ihm unzufrieden war? Bestimmt wollte sie etwas wissen über den Austausch der Geschenke mit dem König oder dergleichen.
Sie blieb stehen, drehte sich um und sah ihn an. Er bemerkte, dass er noch immer mitten im Mondlicht saß. Also stand er auf und stellte sich ein paar Schritte von ihr entfernt hin, sodass ihrer beider Gesichter vom Licht beschienen wurden.
„Ich will mit dir reden“, erklärte sie.
„Ja“, sagte er und fügte hinzu: „Worüber?“
„Meine Rechte als Ehefrau.“
„Deine – was?“
Ihre Antwort verblüffte ihn. Ihm fiel nur ein einziges Recht ein, das er ihr seit der Unterzeichnung des Ehevertrags nicht gewährt hatte. Sie schritt vor ihm auf und ab wie eine wütende Raubkatze, weil er sie nicht geliebt hatte!
Zwei Tage lang hatte er mit sich selbst gehadert, weil er vor ihr die Beherrschung verloren hatte. Er hatte befürchtet, sie hätte sein unmännliches Zögern und seine Zweifel bemerkt. Nicht einmal sich selbst gegenüber mochte er einräumen, dass er zu so einer Schwäche fähig war. Doch kein einziges Mal war ihm der Gedanke gekommen, sie könnte glauben, er hielte sich von ihr fern, weil seine zitternden Finger ein Zeichen dafür waren, dass er ihre weiblichen Bedürfnisse nicht mehr erfüllen konnte. Dass er impotent war!
Nach einem Moment des Unglaubens traf ihn die Wucht des Zorns mit aller Macht, als er das ganze Ausmaß dieser Beleidigung begriff. Nie hätte er so viel Zeit verstreichen lassen dürfen, ehe er sie wieder in sein Bett holte.
„Du bist gekommen, damit ich dich liebe!“
„Nein!“ Sie klang erschrocken, aber er hörte sie gar nicht.
„Wie könnt Ihr meine Fähigkeit anzweifeln, Euch zu befriedigen, Madam!“
„Ich habe nicht …“
„Ich habe Euch wie ein Gentleman behandelt, und jetzt werft Ihr mir vor, ein Eunuch zu sein!“ Empörung und Zorn erfüllten ihn, und er packte ihre Schultern. In dem Moment, da sie die Papiere unterzeichnet hatte, hätte er sie ins Bett holen sollen, und genauso in jeder folgenden Nacht. Hätte er sie in den vergangenen Tagen so oft geliebt, wie er gewollt hätte, so gäbe es für sie keinen Grund, an seiner Fähigkeit zu zweifeln.
„Das habe ich nie getan!“ Erbost sah sie
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